Playblack Radio. Was ist eigentlich eine "schwarze Stimme"?
von Joana Tischkau und Jan Gehmlich
Regie: Joana Tischkau und Jan Gehmlich
Regieassistenz: Josephine Güntner, Julie Grothgar, Peter Simon
Mit: Engelbert von Nordhausen, Claudia Urbschat-Mingues, Tobias Schmitz, Agnes Lampkin, Samia Dauenhauer, Karmela Shako, Akeem van Flodrop, Calvin E. Burke, Henry Morales, Luca Müller
Komposition: Diana Ezerex, Sydney Frenz, Oihane Schmutte
Technische Realisation: Dirk Hülsenbusch, Steffen Jahn, Barbara Göbel
Dramaturgie: Jan Buck
Produktion: WDR 2023
ESD: 30.04.2023, Länge: ca. 53‘
Eine Stimme formt sich nicht nur...
Eine Stimme formt sich nicht nur aus den Lauten und Tönen, die das Selbst aus seinem Körper hervorbringt. Auch die Resonanz des Anderen, wortwörtlich seines Klangkörpers, spielt eine Rolle, so begann Miedya Mahmod unsere Jurybegründung zum Hörspiel des Monats April 2023.
Die Jury hat sich für „Playback Radio“ entschieden, weil hier viele langwierige und viel gehörte feuilletonistische Debatten ein Ende, eine Erlösung finden: In der zynischen Auseinander-setzung mit dem Schwarzsein auf der nicht visuellen Ebene, aktueller denn je. Tägliche Debatten und Whataboutism finden kein Gehör, das große Ganze wird durch zahlreiche Faktoren wie Synchronsprecher, deutsche weiße Schwarze Musik und innere Monologe aufgebrochen. Damit sticht es aus allen wohlverdienten und großartigen Hörspielen des Monats heraus, als klarer Sieger.
Die Erlösung besteht aber nicht aus Antworten: Sie liegt in der Ruhe nach dem (Thesen-)Sturm. Im Innehalten-und-Weitermachen vor dem nächsten frischen Wind – oder der harschen Böe, je nach Grad des zwischenzeitlichen Ohrensausen, je nachdem, ob Anregung oder Erschöpfung einen befallen. Beides darf sein. Eine Lösung also, nicht Auflösung, bietet die Arbeit von Tischkau und Gehmlich durch die Erkenntnis, dass auf tiefe, aufrichtige Auseinandersetzung mehr Fragen folgen müssen; und was sind Fragezeichen, wenn nicht Vorzeichen des Dialogs? Der Gesprächsbedarf ist da und der Blick für die dazu eingeladenen Stimmen, die Frage nach der einladenden Stimme, das Horchen nach unsichtbarer Präsenz und überschaubarer Repräsentation, bleiben.
Wie Miedya Mahmod bereits im April schrieb: Es wäre ein Leichtes, beim Überblicken des gesendeten Programms bei „Playblack Radio“ von einer Collage zu sprechen. Es wäre zu leicht. Bei diesem Palimpsest aus sich überlagernden weißen Fantasien & Schwarzer Kulturgeschichte wird Schicht für Schicht abgetragen, was mit dem nächsten Jingle schon wieder drauf projiziert wird.
Ideen von Originalität und Ursprung verschwimmen mit Fragen nach Authentifizierung und Identifizierung, heitere Dudelfunk-Ästhetik und metakommunikativer Kommentar drehen die Boxen auf. Besonders gelungen ist der Einsatz klassischer Tontechniken bzw. der Stimmeinsätze.
So wird beispielsweise das Voice-Over der äußerst bemühten Journalistin Stefanie, die nach Straßenumfrage und Googlesuche, im Gespräch mit ihrer „eigenen Schwarzen Freundin“ Isabel zum Sinnbild bzw. Sinnton für die Machtdynamiken, die es weißen Vorstellungen, sprich Fantasien aus Jahrhunderten der Rassifizierung & Exotisierung, von Schwarzen Lebensrealitäten erlauben, diese Lebensrealitäten tatsächlich und sehr real zu beeinflussen, zu beschneiden, zu Besitz zu erklären.
Nach einer Schalte ins Musikstudio und ins Jahr 1994 zu GI Eric und einem westdeutschen Musikproduzenten, erinnert Samuel L. Ja- erinnert Engelbert von Nordhausen mich daran, warum die britische Musikerin FKA Twigs Recht hatte damit, die wiederholte Einordnung ihres genre-bending, extrem speziellen Sounds als ‚Alternative R’n’B‘ einen schlampigen Journalismus zu nennen.
Dieses Hörspiel fungiert als neuer Debattenanfang, intensives Hörerlebnis und Audiomeisterwerk. Die verschiedenen collagenähnlichen Elemente unterstreichen die Jurymeinung und nicht zuletzt der Einsatz hoch profilierter Synchronstimmen runden dieses Karussell, bei dem nie ganz klar zu sagen ist, um was oder wen es sich jetzt eigentlich dreht, ab. Herzlichen Glückwunsch und großes Lob an Joana Tischkau und Jan Gehmlich für dieses gelungene Werk.
Playblack Radio Hörprobe
/
von und mit: Hanna Steger, Max von Malotki sowie den Juror*innen Horst Wegener, Miedya Mahmod, Yasmine M'Barek
ab 10.2.2024 in der ARD Audiothek, im DLF Podcast Hörspiel und überall, wo es Podcasts gibt
Joana Tischkau und Jan Gehmlich
JOANA TISCHKAU hat Tanz, Schauspiel, Choreographie und Performance in Coventry und Gießen studiert. In ihrer künstlerischen Praxis verwebt sie pop-kulturelle, Schwarzkonnotierte, dem sozialen Raum zugeschriebene Tanzpraktiken mit intersektionalen, feministischen und postkolonialen Theorien. Ihre Arbeiten wurden im Künstlerhaus Mousonturm, bei der Tanzplattform 2020 in München, in der Danshallerne in Kopenhagen sowie dem Hebel am Ufer Theater in Berlin gezeigt. Joana Tischkau lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und Berlin.
JAN GEHMLICH ist in Berlin lebender Schriftsteller, Klangkünstler und Musiker. Seine Arbeiten sind materialistische Versuche über Trauer, Geschichte und die Überwindung des jetzigen Zustands der Dinge. Er interessiert sich für die Narrative, die wir uns und anderen von der Welt erzählen und uns universell und natürlich erscheinen, in Wirklichkeit aber durch Machtkämpfe ständig im Wandel begriffen sind. Er hat Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert und in verschiedenen Gruppenkonstellationen zu Pop, Emanzipationsgeschichte und dem amerikanischen Traum gearbeitet.
Joana Tischkau
Jan Gehmlich
Die Jury 2023 waren
Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Der gastgebender Sender 2023 war der WDR.
Eine von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste eingesetzte Jury wählt Monat für Monat aus den ARD-, ORF- und SRF-Ursendungen die nach ihrer Meinung beste Produktion. Aus 12 „Hörspielen des Monats“ wählt die gleiche Jury das „Hörspiel des Jahres“.
10
Februar
2024
Ausstrahlung des Gewinnerstücks auf WDR 3
von Penda Diouf
Bearbeitung und Regie: Christine Nagel
Musik: Niko Meinhold
Dramaturgie: Michael Becker
Mit: Abak Safaei-Rad
Gesang: MFA Kera, Naima Schmitt und Diane Davenport sowie Kinder der Märkischen Grundschule Berlin-Reinickendorf
Produktion: NDR
ESD: 15.06.2022
Länge: 79'59‘‘
„Pisten“ von Penda Diouf erzählt von...
„Pisten“ von Penda Diouf erzählt von tiefsitzenden, körperlichen wie seelischen Wunden, die nur schwer bis gar nicht verheilen, u.a. weil von ihnen noch immer zu wenig gesprochen wird. Dieser autobiographische Theatermonolog geht unter die Haut, und in der heraus-ragenden Hörspielfassung, inszeniert von Christine Nagel und gesprochen von Abak Safaei-Rad, noch viel mehr.
In dem Text verwebt die französisch-senegalesisch-ivorische Autorin und Schauspielerin ihre eigene Geschichte als 1981 in Dijon geborene Tochter afrikanischer Eltern mit der Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus und Rassismus gegenüber Schwarzen* Menschen und deren Widerstand dagegen.
Im Zentrum des Hörspiels steht eine Reise, die Penda Diouf 2010 nach Namibia unternahm. Ausgangspunkt dieser Reise ist eine Lebenskrise der Ich-Erzählerin, die in einer Depression gipfelte, welche aus den unterschiedlichen rassistischen und traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend resultierte. Schlaglichtartig erfahren wir von ihnen, durch die Beschrei-bung von bedrückenden Szenen wie z.B. der, als ihr beim Karneval im Gegensatz zu den anderen Kindern die schwarze Farbe im Gesicht verwehrt wird, weil sie ja schon Schwarz sei, oder der Szene der Verabschiedung von ihrem von Rassisten in Frankreich ermordeten Onkel in der Leichenhalle.
Durch ihre Reise erhält das individuelle Schicksal der jungen Frau jedoch eine historische und politische Dimension, da sie mit der Geschichte Namibias konfrontiert wird: Zum einen mit den Spuren der Apartheid, da Namibia von 1915 bis 1990 von Südafrika besetzt war, zum anderen v.a. aber auch mit den Spuren des Völkermords an den Herero und Nama, der in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884–1915) unter dem preußischen General Lothar von Trotha mit Unterstützung des deutschen Kaisers Wilhelm II. begangen wurde.
Das furchtbare Schicksal der Opfer kontrastiert Diouf im Hörspiel einerseits mit der Geschichte des Widerstands der Herero und Nama sowie den herausragenden Leistungen und Widerstands-gesten Schwarzer Sportler*innen von Jesse Owens über Surya Bonaly bis Colin Kaepernick und andererseits mit ihrem eigenen, zunehmenden Mut, als selbstbewusste und kämpferische, Schwarze Frau und Schriftstellerin sichtbar zu werden und ihre Stimme zu erheben.
Indem Diouf von diesen tiefen, anhaltenden Wunden spricht, die Kolonialismus und Rassismus geschlagen haben, und wie sie von ihnen spricht, tut sie das Einzige, was vielleicht zumindest ein bisschen dabei helfen kann, Traumata zu heilen: Sie holt sie aus dem Verdrängten, Verschwiegenen, Vergessenen in unser Bewusstsein, und sie tut das auf so poetische und einfühlsame Weise, dass sie beim Hören auch weiße Menschen, Nachkommen der europäischen Kolonialmächte, tief berühren und dazu bewegen, über die Ursachen dieser Wunden nachzudenken und sich zu ihnen zu verhalten.
Der literarische Text der Autorin Penda Diouf, in der gelungenen Übersetzung von Annette Bühler-Dietrich, die schauspielerische Leistung der Sprecherin Abak Safaei-Rad sowie die Schauspielführung und Inszenierung der Regisseurin Christine Nagel sind dabei gleichermaßen herausragend. Pisten überzeugt somit in jeder Hinsicht, nicht nur als Hörspiel des Monats Juni 2022, sondern ebenso als Hörspiel des Jahres 2022.
* Das Adjektiv Schwarz mit einem großen S geschrieben bezeichnet gerade nicht eine Hautfarbe, sondern markiert eine sozio-politische Position innerhalb einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaft. Diese Schreibweise wurde als emanzipatorische Praxis von Autorinnen der Schwarzen Diaspora eingeführt. Wir haben sie übernommen, um unsere Solidarität mit deren antirassistischen Anliegen auszudrücken.
PISTEN Hörprobe
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Penda Diouf ist französische Theaterautorin und...
Penda Diouf ist französische Theaterautorin und Schauspielerin mit senegalesisch-ivorische Wurzeln. Ihre Stücke wurden beim Festival d’Avignon Off und auf zahlreichen Bühnen weltweit gespielt. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit Fragen der Identität, des Feminismus, der Unterdrückung und der Kolonialisierung. Penda Dioufs Monolog „Pisten“, veröffentlicht 2021, tourt in Deutschland und Frankreich in einer Inszenierung von Aristide Tarnagda für das Festival d’Automne in 2020/21. Diouf hat mit Anthony Thibault das Label Jeunes Textes en Liberté, ein Theaterfestival für zeitgenössische, unterrepräsentierte Dramatik gegründet, das jungen Autor*innen in Frankreich mit Veranstaltungen und Schreibworkshops eine Plattform bietet. Für die Autor:innentheatertage 2021 hat sie Kevin Rittbergers Kurzstück Blackout White Noise (wenn ihr schweigt, werden die Steine schreien) weitergeschrieben, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart, Europa und Afrika begegnen.
Theaterstücke:
Poussière
C’est pour votre bien
Modou et Fanta
La Boutique
Non merci
Le Symbole
Le Squelette
La Grande Ourse
Pistes
Poser ses valises
Noire comme l’or
In deutscher Fassung im Henschel Schauspiel Verlag Berlin sind erschienen:
Die große Bärin (La grande ourse)
Schwarz wie Gold (Noire comme l’or)
Pisten ... (Pistes ... )
Christine Nagel ist deutsche Hörspielautorin und...
Christine Nagel ist deutsche Hörspielautorin und -regiseurin.
Für ihre Arbeiten wurde sie zahlreich ausgezeichnet; so mit dem Grand Prix Nova und mehrfach wurden ihre Produtkionen zum Hörspiel des Monats ernannt.
In den letzten Jahren arbeitete sie in mehreren Hörspielen mit der Schriftstellerin und Dichterin Ruth Johanna Benrath zusammen, adaptierte Texte für Hörspiele von Autor*innen wie Judtih Kerr, Ilse Eichinger, Robert Gernhardt, Bertold Brecht, Niklas Frank oder Anne Weber.
Ihre jüngsten Hörspiele sind:
2018: Aus der Tiefe von Ruth Johanna Benrath
2018: BLATNYS Kopf oder Gott der Linguist lehrt uns atmen
2019: GEH DICHT DICHTIG! Ein lautpoetischer Dialog mit Elfriede Gerstl von Ruth Johanna Benrath
2020: Trommeln in der Nacht von Bertolt Brecht
2020: Mutter Sprache von Werner Fritsch
2020: Siren_web_client.exe
2021: Rahel, damit Sie mich kennen. Hörspielserie über Rahel Varnhagen in 10 Teilen
2022: Pisten von Penda Diouf
Abak Safaei-Rad ist deutsche Schauspielerin, Hörspiel-...
Abak Safaei-Rad ist deutsche Schauspielerin, Hörspiel- und Synchronsprecherin.
Im Anschluss an ihr Schauspielstudium an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover folgten Festengagements am Schauspiel Frankfurt und dem Staatstheater Stuttgart. Als Gast war sie u.a. zu sehen an der Volksbühne Berlin, am Deutschen Theater Berlin, am Schauspiel Hannover, am Theater Neumarkt Zürich und bei den Salzburger Festspielen. Seit 2019 ist sie festes Ensemblemitlgied am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Darüber hinaus arbeitet sie als Synchronsprecherin, aber auch als Hörfunk- und Hörspielsprecherin, womit sie bereits im Alter von 12 Jahren begann.
Am Gorki Theater spielt/spielte sie u.a. in:
Die Farben einer Parallelen Welt von Mikola Dziadok
Oder: Du verdienst deinen Krieg (Eight Soldiers Moonsick) von Shivan Ben Yishai
Berlin Kleistpark von Hakan Savaş Mican
Anna Karenina oder Arme Leute nach Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewskij
1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel
Alles unter Kontrolle von Oliver Frljić
Die Verobung in St. Domingo - Ein Widerspruch von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist
Ihre jüngsten Spiel- und Fernsehfilme:
2019: Tatort: Für immer und dich
2020: Futur Drei
2021: Tatort: Was wir erben
2022: Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush
2022: Die Saat
2022: In Wahrheit: In einem anderen Leben
2022: Der Barcelona-Krimi (Folge: Der längste Tag)
2022: Tatort: In seinen Augen
2022: Souls
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur
Eine von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste eingesetzte Jury wählt Monat für Monat aus den ARD-, ORF- und SRF-Ursendungen die nach ihrer Meinung beste Produktion. Aus 12 „Hörspielen des Monats“ wählt die gleiche Jury das „Hörspiel des Jahres“.
03
März
2023
Am Freitag 3. März 2023 findet die Preisverleihung zum Hörspiel des Jahres im Deutschlandfunk, Funkhaus Köln statt.
Im Rahmen des Kölner Kongresses 2023 „Auserzählt? Von Krisen und Neuerfindungen des Erzählens“ wird die Auszeichnung (der DADK) im Deutschlandfunk Kammermusiksaal verliehen.
Gespräche mit den Macher*innen, der Jury und Vertreter*innen des gastgebenden Senders
Auszüge aus dem Hörspiel "Pisten"
Musik: Akiko Ahrendt und Friedemann Dupelius; Moderation: Britta Steffenhagen
Beginn 18.30 Uhr
Eintritt frei, Anmeldung erforderlich unter https://www.deutschlandfunk.de/koelner-kongress-102.html
Eindrücke und Ausschnitte aus der Preisverleihung
https://www.hoerspielundfeature.de/hintergrund-118.html
Nagelneu
von Hendrik Quast und Maika Knoblich
Regie: Hendrik Quast und Maika Knoblich
Komposition: Katharina Stephan
Dramaturgie: Christina Hänsel
Produktion: WDR
ESD: 25.01.2021
Länge: 30'33''
In ihrer Zusammenarbeit leiten Hendrik Quast und Maika Knoblich Fragen aus Beobachtungen des Alltags ab und entwickeln daraus situations- und ortsspezifische Happenings und Aktionen. Aus der ihnen eigenen Expert*innen-Mimikry geht ein themenspezifisches Fachwissen hervor, das auf der Bühne sowohl im Tun als auch im Kommentieren erprobt wird. Beide begannen ihre Zusammenarbeit 2009 während des Studiums am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen.
NAGELNEU Hörprobe
/
In ihrer Begründung zum Hörspiel des Jahres 2021 schreibt die Jury:
Einweghandschuhe schnalzen, Feilen schaben, Cremes schmatzen, und fern im Hintergrund feiern Opernklänge im Radio diese Stunde der Verschönerung in einem Nagelstudio. Der Hörer, die Hörerin wird in "Nagelneu" als Kunde bzw. Kundin einbezogen und damit sowohl zum Publikum dieser Hörperformance wie auch als Klient der sogenannten körpernahen Dienstleitung imaginiert. Bei manchen Fräs-, Kratz- oder Schleifgeräuschen meint man gar, die Behandlung auf den eigenen Fingernägeln zu spüren.
Das Zuhören wird zum immersiven Gesamterlebnis, die Hörerschaft selbst zu einem Teil dieses akustischen Tableau vivant, das sich - wie könnte es anders sein - ganz der Entspannung verschrieben hat und seine Pausen als Echoräume nützt. Es zieht einen förmlich hinein in dieses radiophone Kosmetikstudio mit seinen typischen Klängen und scheinbar belanglosen Gesprächen. Hier wird aber nicht nur an den Oberflächen von Nägeln gefeilt, sondern auch an stereotypen Geschlechterrollen und Klischeebildern gekratzt. Dank der subtilen Raumakustik und Soundkulisse gelingt das Eintauchen in einen Hörraum, der wahrlich Vergnügen bereitet und einen starken Eindruck hinterlässt. Das adressierende Konzept, die unaufgeregte Präzision und Leichtigkeit haben uns als Jury überzeugt.
Feilen, schleifen, kleben. Full covers, Stempel, French, Glitzer. Natur oder Kunstnagel? „Aber wenn du Natur willst, dann kannst du auch nur zu Hause rumsitzen. Brauchst du nicht hierherkommen.“
Dieses Hörspiel von Maika Knoblich und Hendrik Quast ist die Herzensentscheidung der Jury aus Wien für den Jänner 2021. Die Autoren haben mit ihrer Idee einen leichten und lustvollen Zugang zum Zuhören erdacht. Man lebt mit, riecht den Lack beim Trocknen, spürt die Feilen zwischen den Fingern, stellt sich hunderte Designs von fake nails vor und kann endlich das Mäuschen im Eck vom Hinterzimmer des Nagelstudios sein. Stellvertretend für alle Büroküchen, Besprechungszimmer oder Musikbackstage-Räume dieser Welt. Eine schmirgelnd raue, glitzernde Sound- und Dialogwelt, die in die Tiefe geht, um gleich wieder an der Oberfläche dahinzukratzen. Das ermöglicht ein verspieltes Ein- und Aussteigen. Kunstvoll gesetzte Pausen, die Platz zum Abdriften in eigene Gedankenwelten anbieten und gleichzeitig neugierig machen, wie es denn jetzt gleich weitergehen wird. Verhandelt werden Körperpflege, Kundenerziehung, aufgerissene Männer und Hochzeitsnägel, Krankheiten, Beziehungen, die eigenen Grenzen und vieles mehr. Der ganze Schönheitsbetrieb, der hier als Platzhalter für eine Vielzahl an Jobs und Arbeitssituationen steht, kann stellvertretend gleich im Nagelstudio besucht werden.
Margarte Affenzeller, Kulturjournalistin, Wien
Christine Ehardt, Film- und Medienwissenschaftlerin, Wien
Florian Kmet, Komponist und Musiker, Wien
Gastgebender Sender 2021: ORF
Eine von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste eingesetzte Jury wählt Monat für Monat aus den ARD-, ORF- und SRF-Ursendungen die nach ihrer Meinung beste Produktion. Aus 12 „Hörspielen des Monats“ wählt die gleiche Jury das „Hörspiel des Jahres“.
Man trifft sich zum Zoom-Meeting. Virtuell...
Man trifft sich zum Zoom-Meeting. Virtuell natürlich. So wie auch fast alle Jurysitzungen in einem weiteren Corona-Jahr online stattfanden. Als erster erscheint Florian Kmet, Komponist und Musiker, im Meetingraum. Ungewöhnlich, dass er der erste ist, lacht er. Dann stoßen die beiden anderen Jurorinnen dazu: Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin der österreichischen Tageszeitung „der Standard“, und Christine Ehardt, Theater-, Film- und Medienwissenschafterin. Es herrscht ein vertrauter Plauderton, man erinnert sich an Jurysitzungen aus dem Urlaub aus lauten Gasthäusern mit schlechter Internetverbindung, lässt das vergangene Jahr Revue passieren und intensive Hörerlebnisse nachwirken.
Liebe Jury, Sie haben im letzten Jahr viele Stunden damit verbracht, die unterschiedlichsten Hörspiele zu hören. Wo oder in welcher Situation haben Sie denn am liebsten gehört?
FK: Ich habe in vielen unterschiedlichen Situationen gehört. Am Anfang des Jahres war es meine Idealvorstellung, dass ich sehr viel im Wald spazieren gehe und dabei die Hörspiele anhöre. Habe ich natürlich nicht immer gemacht, auch weil diese oft später als gedacht eingereicht worden sind. Aber ich habe viel in Bewegung gehört, beim Spazieren oder auch beim Kochen.
CE: Mir ging es da ganz anders: Ich habe gemerkt, dass ich sofort abschweife, wenn ich mich mit etwas anderem beschäftigte. Deshalb saß ich immer am Computer und habe über Kopfhörer gehört – wie eine Bürohengstin. [lacht]
MA: Bei mir war es genauso. Ich kann nicht hören und nebenbei was anderes machen. Mir entgeht dabei zu viel. Für mich ist das ganz klar: Ich sitze auch vor dem Computer mit Kopfhörern und bin mitschreibbereit. Das ist leider nicht so romantisch, wie man sich das Hören so vorstellt.
Was für eine Hörspielerfahrung bringen Sie mit?
MA: Ich bin schon seit Jahren Mitglied in einer Hörspieljury, deshalb war das Hören der Hörspiele an sich nichts Neues für mich, natürlich nicht in diesem Umfang. Ich komme aus dem Theater, kenne manche Hörspiele in Theaterversion oder als Texte, die als Hörspiel nochmal auftauchen. Deshalb war ich da eigentlich recht eingearbeitet.
CE: Ich habe bisher immer das akademische Hören forciert. Ich komme aus der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und habe lange in einem Forschungsprojekt gearbeitet, das sich dezidiert mit Hörinszenierungen österreichischer Literatur im Radio beschäftigt hat. Im Zuge dieser Beschäftigung habe ich viel zum Thema Hörspielgeschichte und Hörspieltheorie geforscht. Teil der Jury zu sein war schön, weil dabei nicht nur das Hören und Beurteilen nach vorgegebenen Kriterien gefragt war, sondern auch persönliche Eindrücke wichtig waren.
FK: Das war auch eher mein Zugang. Ich habe zwar öfter schon Musik für Hörspiele geschrieben oder aufgenommen, aber ich habe nicht diesen analytischen, hörspielgeprägten Background (beruflicher Natur). Deshalb war die Zusammensetzung der Jury auch total interessant: Jeder kommt aus einem unterschiedlichen Bereich und dennoch gab es spannende Parallelen, was uns zugesagt hat und was uns nicht erreicht hat.
Ein kurzer Rückblick auf das Hörspieljahr 2021: Können Sie einen Eindruck der Arbeit als Jury geben?
MA: Es war wirklich alles an Hörspielen dabei. Von der monumentalen Serienproduktion, die ihren Erzählbogen über Jahrtausende spannt, bis zu Miniatur-Studie. Bei der Beurteilung haben wir versucht, unsere eigenen Hörgewohnheiten von Monat zu Monat zu hinterfragen. Genau zuhören, wie andere zuhören und was ihnen gefällt und was einem nie auffällt. Ich fand es sehr schwierig, aus den eigenen Gewohnheiten herauszufinden. Ich musste mich aktiv darum bemühen, meine Grenzen zu weiten und andere Perspektiven zu finden, da gehört es manchmal auch dazu, die eigenen Geschmacksbarrieren zu überwinden.
CE: Mir ging es auch so. Ich fand es spannend, die Qualität und Eigencharakteristik jedes Hörspiels im Dialog mit den anderen herauszuarbeiten und nicht gleich zu sagen, das gefällt mir nicht. Es ist eben immer auch ein Abwägen: Ich habe einerseits ein Faible für Experimentelles und andererseits merke ich, dass ich immer in kulturhistorischen Themen gefangen bin. Es war total bereichernd, sich darüber mit den anderen beiden auszutauschen. Dinge, die man vorher für nicht so wichtig hielt, bekommen so einen neuen Stellenwert und geben der eigenen Bewertung einen anderen Fokus.
FK: Dem kann ich zustimmen, das war total interessant. Bei mir gab es schon den Fokus auf den Klang und die musikalische Gestaltung, weil ich mich selbst viel mit Musik beschäftige. Ich bin da auch eher dem Experimentellen zugeneigt und lasse mich von neuen Zugängen überraschen. Manche Aspekte habe ich zum Beispiel im Gegensatz zu den anderen ausgeblendet oder Dinge anders wahrgenommen. In der Diskussion über die verschiedenen Wahrnehmungen sind wir so meist recht schnell auf ein Gewinnerstück gekommen.
Wie sind Sie Monat für Monat zu Ihren Entscheidungen gekommen?
CE: Das Ziel war es immer, eine Top 3 zu finden, meistens war es eine Top 5 bis 7. Die haben wir dann alle durchbesprochen.
FK: Es gab keinen klaren Masterplan. Es kamen oft schon alle Hörspiele zur Sprache, aber jeder hat dann für sich definiert, was ihn am meisten anspricht.
Das hört sich nach ausufernden Jurysitzungen an?
FK: Eigentlich nicht, wir waren total effektiv. Das hat mich sehr überrascht. Anfangs dachte ich immer, das dauert sicher mehrere Stunden.
MA: Bis auf drei Mal haben wir uns auch nur virtuell getroffen. Kriterienkatalog haben wir keinen entwickelt, weil alle Werke so derart unterschiedlich waren, dass man eigentlich immer wieder mit neuen Kriterien an die Stücke rangehen musste. Wir haben uns auf die Top 3 bis 5 konzentriert und an diesen Beispielen dann die Kriterien nachgeschärft und unsere Auswahl getroffen.
Waren Sie sich schnell einig?
MA: Man musste manchmal schon nachgeben.
[Alle lachen]
Sie haben das Hörspiel des Monats Januar – „Nagelneu“ von Hendrik Quast und Maika Knoblich zum Jahressieger gekürt. Haben Sie bei der Wahl zum Hörspiel des Jahres viel diskutiert?
CE: Wir hatten eigentlich zunächst andere Hörspiele in der Favoritenrolle. Erst in der gemeinsamen Reflexion ist uns aufgefallen, wie sehr uns dieses Hörspiel sowohl auf einer intellektuellen als auch emotionalen Ebene angesprochen hat. Im Rahmen aller Hörspiele, die wir in den zwölf Monaten gehört haben, ist „Nagelneu“ ein herausragendes Projekt. Es unterschied sich total von allem, was sonst so eingereicht wurde.
Ihre Wahl haben Sie als „Herzensentscheidung“ betitelt. Was macht das Hörspiel so besonders?
CE: Für mich ist es die Gestaltung des Raumes. Das Hörspiel kommt sehr leichtfüßig und unterhaltsam daher, ist aber gleichzeitig so raffiniert gestaltet und im akustischen Raum situiert, dass es auch auf einer Inhaltsebene ganz viel mitliefert. Es lässt einen komplett eintauchen in diese Hörwelt, der man sich fast nicht entziehen kann.
MA: Wir waren damals auch sehr schnell bei dem Monatsgewinner – in den nachfolgenden Monaten war das nicht immer so. Es ist einfach ein perfektes Hörspiel: Diese immersive Grunddisposition, die einen als potenzielle*n Kundin oder Kunden involviert, ist raffiniert. Es erzeugt unheimliche Nähe. „Nagelneu“ ist auch wahnsinnig lukullisch: diese Schmatzgeräusche, das Feilen und die Abziehlaute – die habe ich jetzt ein Jahr später noch im Ohr. Das Hörspiel klingt zunächst einmal nach Easy Listening, gleichzeitig geht es um etwas. Hier wird eine moderne Gesellschaft wahnsinnig gut abgebildet, in der solche Dienstleistungszweige total boomen. Auch der Gedanke der Selbstoptimierung ist darin sehr gut ausgeführt.
FK: Diese Verortung im Raum fand ich sehr eindrücklich, man weiß ganz klar, wo man sich befindet. In mir ist da sehr schnell die Vorstellung gewachsen, wie es in diesem Nagelstudio aussieht. Du bist der Kunde oder die Kundin oder die Maus im Hinterzimmer, die mithören kann. Und das kann ja stellvertretend für sämtliche Büros, Proberäume oder Hinterzimmer stehen.
War es für Sie ein Kriterium, ob der originäre Stoff als Hörspiel geschrieben wurde?
FK: Es war kein letztendliches Entscheidungskriterium, aber wir haben da schon immer wieder drüber gesprochen.
CE: Für mich war es eigentlich schon ein wichtiges Kriterium, ich habe aber gemerkt, dass das so nicht immer stimmt, weil man bei Adaptionen meist an klassische Literaturadaptionen denkt. Mittlerweile sind aber viele Hörspiele intermedial und mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen verflochten, dass man das so gar nicht mehr sagen kann. „Nagelneu“ ist auch aus einer Performance heraus entstanden, trotzdem würde ich es als originäres Hörspiel betiteln.
In Ihrer Auswahl haben bei vier Hörspielen Männer Regie geführt, sieben Produktionen wurden von Regisseurinnen gestaltet und in einem Hörspiel ist die Regieposition paritätisch besetzt. Ist diese Verteilung repräsentativ für die Hörspiellandschaft?
MA: Wir haben nicht gezielt geschaut, weil die Einreichungen so divers waren. Darüber mussten wir nie einen Satz verlieren. Haben wir gut gemacht.
CE: Das Genre ist so vielfältig, dass das nie zum Thema werden musste.
Was ist Ihnen an Höreindrücken aus dem Jahr 2021 geblieben?
CE: Die Stimmen. Im deutschsprachigen Hörspielraum hat es lange an vielfältigen Stimmeindrücken gemangelt und die Frage, wie Stimmen diverser werden können, ist natürlich nicht leicht zu beantworten. Da war es schon ein wichtiger Punkt für mich so viele verschiedene Stimmen zu hören, da hat sich in den letzten Jahren glücklicherweise viel getan.
FK: Interessant war für mich auch zu sehen, dass viele Stücke auch gut ohne Musik funktionieren. Dadurch wie die Stimmen gesetzt sind, sie rhythmisiert geschnitten sind, oder wie mit Atmos oder präparierten Klängen gearbeitet wird.
MA: Ich als Theatergeherin bin total auf menschliche Stimme fixiert und nehme die sofort viel stärker wahr als alles andere. Ich habe oft keine Begrifflichkeiten dafür, wie Geräusche oder Töne sich manifestieren oder entstehen. Redepausen waren eigentlich auch sehr schön in den Hörspielen. Man hört so viel den ganzen Tag, das Hören wird generell immer anstrengender. So überladene Hörspiele haben dann gar nicht so viel Chance, weil sie versuchen, mich zu überreden. Die Pausen waren da wirkungsvoller.
Werden Sie weiterhören?
FK: Ich merke schon, dass jetzt, nachdem die Jurytätigkeit vorbei ist, wieder mehr Raum zum Hören für anderes frei wird. Momentan höre ich so viel Musik, wie schon lange nicht mehr. Meine Wahrnehmung für Hörspiele und Musik hat sich durch das wiederkehrende und genaue Hören geschärft. Da bin ich schon gespannt, wie ich in nächster Zukunft Hörspiele wahrnehmen werde.
CE: Ich bin auch gespannt, ob mir dieses Binge-Listening nicht abgehen wird. In dieser Konzentration ist das eine spannende Erfahrung. Ich freue mich aber darauf, auch wieder in den Hörgenuss einzutauchen, ohne bewerten zu müssen.
MA: Eine wichtige Erkenntnis für mich war, dass das Hörerlebnis enorm fragil ist. Es ist ein Unterfangen, das manchmal sogar richtig intim ist. Man hat es im Ohr und ist meist allein mit diesem Hörprodukt. Manchmal hört man Sachen auch noch einmal in einer anderen Situation und plötzlich ist das Hörerlebnis ein ganz anderes. Das zu realisieren, war für mich ein extrem spannender Prozess.
Das Gespräch führte Anna Steinbauer
Daniela Ginten, Kaplaneigasse 7, 64283 Darmstadt
Am Wambolterhof 2, 64625 Bensheim
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