Deutsche Akademie der Darstellenden Künste

Hörspiel des Monats

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Aktuelles  Das Hörspiel des Monats September 2024

DIE RASSISTIN
von Jana Scherer 

  • Einrichtung: Anke Beims

  • Regie, Realisation, Redaktion: Steffen Moratz

  • Regieassistenz: Gabriel Wörfel

  • Mit: Luise Wolfram, Lisa Hrdina, Gisa Flake, Frauke Poolmann, Nora Schulte, Oliver Kraushaar, Leonard Scheicher

  • Ton: Holger König

  • Schnitt: Christian Grund

  • Produktion: MDR 2024

  • ESD: 09.09.2024

  • Länge: Folge 1/6: 26‘23‘‘, 2/6 : 26‘01‘‘, 3/6: 23‘36‘‘, 4/6: 25‘44‘‘, 5/6: 26‘41‘‘, 6/6: 26‘43

DIE RASSISTIN Hörprobe

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Begründung der Jury

Liegt eine lesbische Cis-Frau, Unidozentin für Soziolinguistik, im Untersuchungsstuhl einer Kinderwunschpraxis und erhält auf dem Handy die auf sozialen Medien sich ausbreitende Mitteilung eines rassistischen Vorfalles in ihrem Institut.
Wurden nicht jüngst in einer ihrer Lehrveranstaltungen drei chinesische Studierende nach deren Referat wegen des unverständlichen Deutschs von einem Kommilitonen harsch kritisiert, und sie als Dozentin war im Sinne der Correctness nicht entschieden genug eingeschritten? Das reicht für einen Sturz in die Abgründe von Angst und Verzweiflung, in die das politische Über-Ich sie stößt. Das Drama der begabten Akademikerin kann beginnen. Ausgetragen wird es von einem Chor innerer Stimmen. Immer neue Mitteilungen ploppen auf und treiben die Gewissensturbulenzen an, gepfeffert durch die Ungewissheit, wann die namentliche Nennung der verantwortlichen Lehrperson endlich zur öffentlichen Verurteilung führt. Denn bis jetzt ist nur vom Vergehen selbst die Rede. Im persönlichen Ringen der Protagonistin mit sich selbst wird die kritische Gegenwartsphilosophie von Antirassismus, -sexismus, -klassismus, die Lehre von der Repression gegenüber Gender- und sexueller Identitäten durchdekliniert. Ihre Werte sind wichtig und unverzichtbar. Umso schmerzhafter treffen Vorwurf und Selbstvorwurf. 

Aber die deutsche Autorin Jana Scheerer fiktionalisiert auf einer Metaebene auch noch die Erzählsituation ihres zuerst als Roman erschienenen Textes, der sich allerdings als Hörspielvorlage enorm eignet: Sie erfindet einen Schriftstellerkollegen, der ihr das Material des Projektes abnimmt und zu einem Ganzen verarbeitet, weil sie sich damit überfordert fühle. Damit kann sie die Empörung des Zeitgeistchors darüber lostreten, dass sich ein Mann, wenn auch schwul, anmaßt, die Befindlichkeit einer Frau im gynäkologischen Ambiente zu beschreiben.
Und das trifft einen zentralen Nerv des Themas: Zugestandenermaßen unerlässlich ist der kritische Filter, der prüft, wer in welcher Lebenssituation zu oder über wen in welcher anderen Lebenssituation was sagt oder predigt.

Aber verabsolutiert und als Waffe eingesetzt, zerschneidet dieses Kriterium jegliche Gemeinsamkeit von Kommunikation und Empathie, zerstört die Spontaneität des Zusammenlebens und ersetzt letzteres durch die Machtkämpfe eines gesellschaftssprengenden Betroffenheitstribalismus’. Es terrorisiert, wie die Produktion eindrücklich aufzeigt. Dabei wird nur allzu schnell aus Antirassismus ein Gegenrassismus, herkömmliche Identitätsformen werden unter Generalverdacht gestellt und mit ewigem Erklärungsbedarf belegt, und dies in einer scheinsanften Sprache („ich finde es schwierig, dass…“, „ich fühle mich unwohl“); diese liegt über einer gehörigen Portion autoritärer, zensorischer Wut wie Raureif über einer Landschaft und erinnert an die repressive Liebenswürdigkeit religiös christlicher Diskurse.

Der dialogische Prozess in Scheerers Werk ist sprachlich so scharf, das sprechende Ensemble mit Luise Wolfram in der Hauptrolle so präzise und die schmucklos elegante Regie von Steffen Moratz so tadellos im Timing, dass man als Jury die Hörpflicht vergisst und sich die ganze Serie in einem Mal hineinzieht. Man will es wissen – und wird am Schluss auch noch überrascht.
Darum wählen wir Jana Scheerers sechsteilige Serie zum Hörspiel des Monats September 2024.


Die Jury und der gastgebende Sender 2024

Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur, -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie

Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Lobende Erwähnung

IMMER JETZT, Hörstück von Johannes S. Sistermanns (SWR)

Sistermanns gelingt es, die Harmonie der traditionellen japanischen Bogenschießkunst Kyudo eindrucksvoll zu vermitteln, indem er die Klänge dazugehöriger Materialien, Bewegungen und Räume sowie von Musikinstrumenten arrangiert. Dabei entsteht nicht nur eine Komposition, sondern eine plastische Klangchoreografie im Geiste der Zuhörenden: ein Hörerlebnis mit bestechender Weite und Präzision.

 

About 

Seit 1977 werden die Hörspiele des Monats von einer dreiköpfigen Jury gewählt. Die Jury wird von den Sendern gemeinsam mit der Akademie bestimmt.

In den Wettbewerb kommen die von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten monatlich vorgeschlagenen Ursendungen. Die Jury hört und beurteilt die eingereichten Hörspiele und wählt das interessanteste / bemerkenswerteste Hörspiel des Monats. Die Wahl wird der Presse zur Veröffentlichung bekanntgegeben.

Aus den zwölf ausgewählten Hörspielen wird seit 1987 das "Hörspiel des Jahres" gewählt und in einer öffentlichen Veranstaltung in Frankfurt am Main vorgestellt.

Das neuste Hörspiel finden Sie unter „Aktuelles“. Die zurückliegenden Hörspiele bis 2018 befinden sich im „Archiv“. Alle weiteren zurückliegenden Jahre werden nach und nach eingebracht ins Archiv.

Christoph Buggert (Hörspielautor und Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste) im Gespräch mit Michael Farin, BR 2017, 12 min.

Wie das "Hörspiel des Monats" entstand

Das Buch zum Hörspiel des Monats / Jahres

"Seismographie des Hörspiels. 40 Jahre Hörspiel des Monats 1977-2017, 30 Jahre Hörspiel des Jahres 1987-2017"

2017 - Ein Jubiläum wird gefeiert!...

2017 - Ein Jubiläum wird gefeiert!
40 Jahre Hörspiel des Monats, 30 Jahre Hörspiel des Jahres

Im April 1977 wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste die Initiative »Hörspiel des Monats« ins Leben gerufen. 1987 kam das »Hörspiel des Jahres« hinzu.
Die umfangreiche Publikation versammelt das Who is Who der deutschen Hörspielschaffenden, die Einblicke geben in ihr Schaffen, ihr Verständnis von Radiokunst und dem Medium Radio ganz grundsätzlich ihre Begeisterung aussprechen.

Mehrere hundert Produktionen wurden in den vergangenen Jahrzehnten ausgezeichnet, von jährlich wechselnden Jurys, die sich aus Publizist/innen und Kritiker/innen zusammensetzten. Das Prinzip des kontinuierlichen Wechsels sorgte für ständige, häufig kontrovers, aber immer produktiv geführte Diskussionen zur Qualität von Stücken, zu den Kriterien der Beurteilung künstlerischer Radio-Produktion und auch zu den Entscheidungen der Jury.

Christoph Buggert, selbst Autor und Mitglied des Präsidiums der Akademie, der das Hörspiel als »eine der lebendigsten, phantasievollsten und formal variantenreichsten Kunstgattungen der Gegenwart« bezeichnet hat, lud Autor/ innen, Komponist/innen, Regisseur/innen, Dramaturg/innen und Publizist/innen ein, für diese Hörspiel-Publikation der Akademie Beiträge zu verfassen: Gedankensplitter, Kurz-Essays, Kommentare, Erinnerungsfetzen, Fußnoten, Polemiken und Miszellen zum Zustand und den Perspektiven der Radiokunst.

So entstand diese »Seismographie des Hörspiels«, die zu einer vielstimmigen Momentaufnahme des Genres wurde und einen eindringlichen Blick wirft auf Situation und Entwicklungsmöglichkeiten jener Kunstform, die das Medium Radio originär hervorgebracht hat.

Mit Beiträgen von
Walter Adler, Katarina Agathos, Regine Ahrem, Andreas Ammer / FM Einheit, Alfred Behrens, Katharina Bihler / Stefan Scheib, Karl-Heinz Bölling, Hermann Bohlen, Karlheinz Braun, Karl Bruckmaier, Christoph Buggert, Klaus Buhlert, Angela di Ciriaco-Sussdorff, Lucas Derycke, Christian Deutschmann, FALKNER, Michael Farin, Stefan Fischer, Thomas Fritz, hartmut geerken, Ulrich Gerhardt, Heiner Goebbels, Kai Grehn, Christine Grimm, Helgard Haug / Daniel Wetzel (Rimini Protokoll), Manfred Hess, Christian Hörburger, Stefanie Hoster, Schorsch Kamerun, Uwe Kammann, Herbert Kapfer, Frank Kaspar, Friedrich Knilli, Helmut Kopetzky, Leonhard Koppelmann, Hermann Kretzschmar, Hans Gerd Krogmann, Hans-Jürgen Krug, Felix Kubin, Sabine Küchler, Anette Kührmeyer, ulrich lampen, Eva-Maria Lenz, Christoph Lindenmeyer, David Zane Mairowitz, Thomas Meinecke, Jochen Meißner, Michaela Melián, Franz Mon, Wolfgang Müller, Martina Müller-Wallraf, Götz Naleppa, Frank Olbert, Elisabeth Panknin, Tom Peuckert, Milo Rau, Thilo Reffert, Holger Rink, Kathrin Röggla, Diemut Roether, Ursula Ruppel, Norbert Schaeffer, Eran Schaerf, Wolfgang Schiffer, Burkhard Schlichting, Raoul Schrott, Nathalie Singer, Tim Staffel, Michael Stauffer, Oliver Sturm, Matthias Thalheim, Ulrike Toma, Lothar Trolle, Wolfram Wessels, Rafik Will, wittmann/zeitblom, Frank Witzel

Seismographie des Hörspiels
40 Jahre Hörspiel des Monats 1977–2017
30 Jahre Hörspiel des Jahres 1987–2017

Hrsg.: Christoph Buggert, Deutsche Akademie der Darstellenden Künste
380 Seiten, broschiert, 19 Abb.
erschienen im November 2017
belleville Verlag Michael Farin
ISBN 978-3-946875-21-5
€ 32,00

zu beziehen beim belleville Verlag, bei der Akademie und über den Buchhandel

Der monatliche Podcast von Deutschlandfunk Kultur zum HÖRSPIEL DES MONATS von Hanna Steger und Max von Malotki

Jochen Meißners Hörspielkritik

Hörspieldatenbank von ARD und Deutschlandradio

Die Hörspieldatenbank führt Nachweise zu Hörspielen in der ARD von 1945 bis heute, außerdem zu Hörspielen des DDR-Rundfunks und der Weimarer Republik. Neben inhaltlich-formalen Informationen zu bislang knapp 60.000 Hörspielen werden auch Hinweise auf Rezensionen, Auszeichnungen und Veröffentlichungen im Handel gegeben.

Podcast

7 Gespräche aus der Hörspielwerkstatt

mit der Kulturbloggerin Lena Kettner

Gewinner:innen des Preises „Hörspiel des Monats/des Jahres“ im Gespräch mit der Kulturbloggerin Lena Kettner

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Das Hörspiel des Monats August 2024 

MEIN SOHN, NEPHEW AND BÁCSI! – EPHRAIM KISHON UND FRIEDRICH TORBERG
von Ephraim Kishon und Friedrich Torberg

  • Bearbeitung: Christian Papke und Leonhard Koppelmann

  • Regie: Leonhard Koppelmann

  • Regieassistenz: Alexandra Wimmer

  • Mit: Michael Maertens, Christoph Grissemann

  • Tongestaltung: Martin Leitner

  • Produktionsleitung: Stefanie Zussner

  • Redaktion: Kurt Reissnegger

  • Produktion: ORF 2024

  • ESD: 18.08.2024

  • Länge: 55‘54‘

Christoph Grissemann während der Aufnahme
Foto ORF Ursula Hummel-Berger

Mein Sohn, Nephew and Bácsi! – Ephraim Kishon und Friedrich Torberg Hörprobe

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Michael Maertens während der Aufnahme
Foto ORF Ursula Hummel-Berger

Begründung der Jury 

Es ist ein auf den ersten Blick harmloser, wenn auch der vielleicht amüsanteste Briefwechsel zwischen einem Autor und seinem Übersetzer. Unter dem Deckmäntelchen der Ironie und der Bewunderung füreinander fechten die beiden Dichter trotz vieler Huldigungen und lakonischer Heiratsanträge Grabenkämpfe aus.

Es ist ein auf den ersten Blick harmloser, wenn auch der vielleicht amüsanteste Briefwechsel zwischen einem Autor und seinem Übersetzer, den dieses ORF-Hörspiel dokumentiert: Auf der einen Seite Ephraim Kishon, der in diesem Jahr 100 geworden wäre, auf der anderen der Übersetzer von zehn seiner Bücher, der österreichisch-jüdische Kritiker und Autor Friedrich Torberg.

Von der förmlichen Erst-Anrede «Lieber Professor Torberg» dauert es in diesem 20 Jahre währenden Nachkriegs-Kontakt der beiden jüdischen Autoren nicht lange, bis man lockere Begrüßungsformeln wählt. Sie schwanken zwischen schulterklopfender Kumpanei und dem Versuch der Degradierung mit ironischem Unterton. Da heisst es dann schon einmal «Dear Old Man» oder ganz offen ätzend «Ephraim, my beloved Sargnagel!».

Unter dem Deckmäntelchen der Ironie und der Bewunderung füreinander fechten die beiden Dichter trotz vieler Huldigungen und lakonischer Heiratsanträge Grabenkämpfe aus. Torberg, der kein Hebräisch konnte, übersetzte Kishon über den Umweg des Englischen. Er soll dabei einzelne Spitzen und Pointen in Eigenregie entfernt haben, weshalb es, sobald der nach Israel emigrierte Ungar besser Deutsch gelernt hatte, zu Reibungen in Deutungsfragen kommt. Torberg kontert Einwände des Autors selbstbewusst bis überheblich: Sein Deutsch sei makellos. Er schreibe überdies «genau das, was du eigentlich hättest schreiben wollen.»

Hochmut muss man sich allerdings leisten können, und die Einnahmen, welche der Kritikerpapst mit den Übersetzungen des vermeintlich literarisch weniger wertvollen Autors generierte, sollen ihm manches Loch in der Kasse gestopft haben.

Kishons Bücher verkauften sich nämlich bald als Bestseller – von der Gesamtauflage, 43 Millionen, wurde das Gros von 31 Millionen im deutschen Sprachraum abgesetzt. Den Erfolg ausgerechnet bei seinen «ehemaligen Henkern» kommentiert Kishon mit Genugtuung. In seinen satirischen Alltagsgeschichten ist der Holocaust fast vollständig ausgeblendet, was, so suggeriert mancher Literaturwissenschaftler, den Erfolg seiner heiter-hintersinnigen Alltagsgeschichten mitbegründet; versöhnliches Miteinander-Lachen, aber bitte sehr ohne düstere Schuldgefühle.

Einzig in Bezug auf den Jom-Kippur-Krieg 1973 verebbt jegliche Ironie der Schreibenden und weicht dem Ärger und der Trauer über den «Verrat» der westlichen, auch der literarischen, Welt, die sich jeder Solidaritätsbekundung enthält. «Wir haben keinen einzigen Freund auf der Welt», stellt Kishon ernüchtert aus Tel Aviv fest, «Israel ist eine winzige Insel, die nicht von Wasser, sondern von Hass umgeben ist.» Und doch sei es das Land, das ihm seine Menschenwürde zurückgegeben habe.

Kriegerischer Auseinandersetzung mit Ironie begegnen, das ist beim vorliegenden Briefwechsel nicht immer erfolgreich. Und so kann man sich schließlich fragen, ob hinter dem Geplänkel, den Foppereien und augenzwinkernden Haarspaltereien dieser wortgewandten Herren nicht eher ein nüchternes, nutznießerisches Arbeitsverhältnis als eine «Freundschaft» steht, wie im Untertitel der Briefausgabe suggeriert. Da mag die musikalische Begleitung durch eine jiddische «Cover-Band» ein Übriges zur gefühlten Oberflächlichkeit der Begegnung beisteuern, die sich nicht selten in Hahnenkämpfen und einem eitlen Wortgefecht verliert.

Das erneute Aufleben des Nahostkonfliktes im Jetzt zwischen Israel und Palästina schwingt bei den Hörenden als traurige Aktualität mit. Und hier wie auch im Briefwechsel scheint es unmöglich, darauf mit Ironie zu reagieren.

 

Die Jury und der gastgebende Sender 2024

Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur, -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie

Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Das Hörspiel des Monats Juli 2024 

BLAUPAUSE
von Leonie Lorena Wyss

  • Regie: Henri Hüster

  • Regieassistenz: Sarah Veith

  • Mit: Lara Sienczak, Sophia Kennedy, Sasha Rau, Svetlana Belesova, Edith Saldanha, Josefine Israel, Maximilian Scheidt, Levin Hofmann, Leonie Lorena Wyss

  • Ton & Technik: Christian Alpen, Sebastian Ohm

  • Komposition & Gesang: Sophia Kennedy

  • Dramaturgie: Michael Becker

  • Produktion: NDR 2024

  • ESD: 03.07.2024

  • Länge: 71’55‘‘

Edith Saldanha, Sasha Rau, Josefine Israel, Svetlana Belesova und Lara Sienczak bei der Aufnahme
Foto Henri Hüster

Blaupause Hörprobe

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Lara Sienczak und Sophia Kennedy bei der Aufnahme
Foto Henri Hüster

Josefine Israel, Edith Saldanha, Sasha Rau, Svetlana Belesova, Lara Sienczak
Foto Henri Hüster

Begründung der Jury 

Zwischen dialogischem Rap und akustischem Comic oszilliert. Bilanz: Heiße Ästhetik, ganz große Kunst

«Auf einmal war sie weg. Verschwunden. Verschwunden im Sinne von nicht wiedergekommen, im Sinne von nie wieder aufgetaucht», die Farbe Blau, das Symbol für – was auch immer. Weg ist das Symbol, durchgestrichen die Bedeutungen: Wir werden im Hörspiel «Blaupause» von Leonie Lorena Wyss mit einer Verblüffung nicht einfach abgeholt, sondern gleich mitgerissen, hineingerissen in den schnatternden Urwald menschlicher Gefühle, Regungen und Bewegungen, Seufzer und Sätze. Wir verirren uns im Schatten junger Mädchen auf ihrem qualvoll süßen, erschreckend sehnsüchtigen Coming-of-age-Weg. Der beginnt bei der unvermeidlichen Familienfete inklusive Chor der dreizehn «Cousinenköpfe dicht über der Bärlauchsuppenpfütze vor ihnen», bei penetrant ratgebenden Tanten und dem Überfall eines Gesprächsstoffes, des Gesprächsstoffes überhaupt: SEBASTIAN. Begleitet von allen nur denkbaren Variationen zum Thema Kichern. «Wir haben uns geküsst, und bald sicher auch das andere.» 

Grell ziehen die Stationen des Passionswegs an uns vorüber: So der Biologieunterricht mit seiner Tier-Doku und den «Jungs in der hintersten Reihe», die «angefangen haben zu pfeifen, als da der Löwe irgendwie so von hinten auf die Löwin». Oder die Kaufhofkasse, bei der sich peinlicherweise herausstellt, dass die gewählten Kaugummis mit Wassermelonengeschmack nicht zum Kauen gedacht sind. Da sind die Tampons, für alle Fälle schon mal eingepackt. Das herumgereichte Filmstill, darauf: «Zwei Frauen, die eine blaue Haare, die andere dunkelblond, schauen sich an, die Lippen ganz nah, küssen die sich?» Und danach die heimliche Internet-Recherche. Party, Wohnzimmer-Dancefloor und fettige Chipsfinger. Alle nur denkbaren Variationen zum Thema Sebastianslachen. Digitaler Lesbentest und zarte Versuche. Später dann – «wir sind zwanzig» - auf dem Teppichboden in der Wohnung des 38jährigen Tindertypen, «Flusen, die kratzen im Rücken, die Uhr mit dem Eiffelturm an der Wand, der Zeiger zwischen 0 und 1.» Ein Rausch geht zu Ende, der rasante Trip ins Erwachsenenalter in seiner ganzen, harten Ambivalenz.

Leonie Lorena Wyss schneidet die Realitäten nur an, zeichnet sie aber im Ausschnitt präzise nach und kommt darum ohne Erklärungen aus. Das ist korrektes Zitieren der Wirklichkeit. Auch in der Hörspielumsetzung: Die Töne stimmen, die Sprechhaltungen des brillanten Ensembles leisten nachgerade Wahrheitsnachweise. Dabei verwebt der Regisseur Henri Hüster Text und Sprechchoreinsätze mit der Bruitage und den Klängen von Sophia Kennedy Soundtrack zu einer Einheit, die zwischen dialogischem Rap und akustischem Comic oszilliert. Bilanz: Heiße Ästhetik, ganz große Kunst und darum Hörspiel des Monats Juli 2024.

Die Jury und der gastgebende Sender 2024
Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur, -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie

Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Leonie Lorena Wyss und Lara Sienczak
NDR Andreas Rehmann

Henri Hüster und Sophia Kennedy
Foto Henri Hüster

Das Hörspiel des Monats Juni 2024 

MIT DOLORES HABT IHR NICHT GERECHNET - Ein jüdisch-queeres Rachemusical
von Tucké Royale

  • Text & Regie: Tucké Royale

  • Mit: Mehmet Ateşçi, Thea Ehre, Wera Bunge, Rafael Stachowiak, Christian Kuchenbuch, Astrid Meyerfeldt, Anna Menzel, Eva Meckbach, Boris Aljinovic, Antonio Wannek, Timo Dierkes, Hauke Heumann, Julius Feldmeier, Daniel Zillmann, Tucké Royale

  • Musik: Angy Lord, Ted Gaier, Yuriy Gurzhy, Paula Sell, Tucké Royale

  • Ton & Technik: Bodo Pasternak, Eileen Dibowski

  • Dramaturgie & Redaktion: Juliane Schmidt

  • Produktion: RBB 2024

  • ESD: 07.06.2024

  • Länge: 54’49

Thea Ernst bei der Aufnahme
Foto Thomas Ernst

Mit Dolores habt ihr nicht gerechnt Hörprobe

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Begründung der Jury 

Meisterhaft wird bedient, was dem Hörspiel eigen ist: Mit Wort und Musik das «Kopfkino» zu aktivieren, brutal und leichtfüßig zu erzählen, was an Brutalität fürs Auge schwer erträglich wäre. Dolores hat sich nämlich auf die Ermordung deutscher Judenmörder spezialisiert und ist darin äußerst erfinderisch, während sie sich in Argentinien oder im Berliner Nachtleben als Tänzerin tummelt: etwas Arsen im Cocktail hier, ein blutig endender Garderobenbesuch eines Verehrers dort.

Argentinien, Buenos Aires. Eine Figur namens Dolores, jüdisch, antifaschistisch, tanzt Tango mit Nazi-Größen, die hier gelandet sind – unter ihnen Eduard Roschmann alias Federico Wegener, auch bekannt als «Schlächter von Riga». Roschmann, so die historische Realität, ging den Nazijägern bis zuletzt durch die Lappen und schaffte es immer wieder, unbehelligt zu bleiben, bevor er 68-jährig in Paraguay starb. Nicht so in diesem «jüdisch-queeren Rachemusical» von Tucké Royale. Da «fällt» Roschmann auf dem Weg zur Toilette «an die zehn Mal» in Dolores’ Messer.

Meisterhaft wird bedient, was dem Hörspiel eigen ist: Mit Wort und Musik das «Kopfkino» zu aktivieren, brutal und leichtfüßig zu erzählen, was an Brutalität fürs Auge schwer erträglich wäre. Dolores hat sich nämlich auf die Ermordung deutscher Judenmörder spezialisiert und ist darin äußerst erfinderisch, während sie sich in Argentinien oder im Berliner Nachtleben als Tänzerin tummelt: etwas Arsen im Cocktail hier, ein blutig endender Garderobenbesuch eines Verehrers dort.

Das Hörstück, dessen Inhalt 2017 als Stück auf die Berliner Bühne des Maxim-Gorki-Theaters kam und das von einer Recherche zum russisch-polnischen Tänzer und Aktivisten Sylvin Rubinstein inspiriert wurde, stellt auf saftige, bewusst blutrünstige Art die jüdische Ohnmacht und Machtlosigkeit auf den Kopf und gibt der größtenteils ungelebten Realität jüdischen Widerstands gegen Massentötung und nationalsozialistische Quälereien in einer fiktiven Story Raum. Dies in der Absicht, das Trauma zu ertragen und Geschichte, wenigstens an ihren Zipfeln, umzudeuten zwecks Ermächtigung Millionen meist Machtloser. 

Über all dem schwebt die tragende, rauchige Stimme jener großartigen Dolores, der wir ihre Performance abnehmen als alles verschlingender Racheengel. Mal unschuldig, mal triumphierend spricht Thea Ehre die Hauptfigur mit Stolz, Verspieltheit und abgeklärtem Durchblick. Dolores’ Treiben folgen wir gerne, ihrem «Ein-Mann-Geheimdienst im Frauenkörper», «einer Variation der Natur», wie der Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld betreffend ihres Frauseins im Zwitterkörper zitiert wird. Wir folgen Dolores gerne, vielleicht, weil sie so wunderbar die Hüften schwingt und göttlich singt. Aber auch, weil ihre zartere Schwester Ida ins Konzentrationslager deportiert wird und ihr Zwilling vermuten muss, dass sie dort stirbt. Ohne Gegenwehr, ohne Kampf und Stimme – wie so unendlich viele andere mit ihr. Indem Ida im Epilog ihre Flucht aus dem Zug ins Lager beschreibt, ihren bewaffneten Widerstand gegen die SS, ihr späteres Tanzen in einem selbst gegründeten Theater im Kibbuz bis die Knochen nicht mehr wollten, korrigiert Royale die Wahrscheinlichkeit von Biografien, die ein unmenschliches Ende gefunden haben.  

Die Jury lässt sich vom blutigen, zugleich rasanten und lustvollen «Kampftanz» Tucké Royales mitreißen, mit dem der Künstler eine «ästhetische Verdrängung der Realität», eine «Neue Selbstverständlichkeit» anstrebt und die alternative Geschichtsschreibung zur machtvollen Behauptung werden lässt.

Die Jury und der gastgebende Sender 2024
Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur, -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie

Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Die Band während der Aufnahmen
Foto Thomas Ernst

Das Hörspiel des Monats Mai 2024 

RAUMZEIT – Gesammelte Entwürfe zum Wesen der Wirklichkeit
von Luise Voigt

  • Regie: Luise Voigt

  • Regieassistenz: Herta Steinmetz

  • Mit: Catherine Stoyan, Manuel Harder, Annika Schilling, Fabian Kulp

  • Komposition: Nicolas Haumann

  • Ton & Technik: Jean Szymczak

  • Besetzung: Arne Salasse

  • Dramaturgie & Redaktion: Cordula Huth

  • Produktion: hr /DLF Kultur 2023

  • ESD: 12.05.2024

  • Länge: 58’22

Manuel Harder, Annika Schilling, Catherine Stoyan und Fabian Kulp
Foto Claudius Pflug

Raumzeit Hörprobe

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Luise Voigt
Foto Marcus Engler

Begründung der Jury 

Das Hörspiel «Raumzeit» nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch die Vorstellungen älterer und zeitgenössischer Philosoph:innen. Voigt öffnet damit einen breiten Fächer von Weltwahrnehmungsmöglichkeiten.

Schon mit dem Titel und dem gedanklichen Ansatz schreibt sich Luise Voigt in die Tradition von Kants kritischer Philosophie ein, von der wir gelernt haben, dass u.a. Raum und Zeit lediglich Konzepte unseres Erkenntnisvermögens sind, mit deren Hilfe wir Welterfahrungen überhaupt erst machen können, und dass die Welt, von der wir wissen, lediglich die Version ist, die uns diese Konzepte und unsere Sinnesorgane vermitteln; wir leben in der Welt, wie sie uns vorkommt, erreichen aber nie die Welt, wie sie an sich ist.

Das Hörspiel «Raumzeit» nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch die Vorstellungen älterer und zeitgenössischer Philosoph:innen. Voigt öffnet damit einen breiten Fächer von Weltwahrnehmungsmöglichkeiten. So bekommen wir u.a. durch Karl Ernst von Baer vorgerechnet, wie unsere Erlebniswelt anmuten würde, wenn wir Wesen mit einer vierzigminütigen Lebensspanne wären, und, zum Beispiel gegen Abend geboren, auf eine düstere Prognose einer viele Generationen dauernden Finsternis schließen müssten, im Gegenzug bei einer extremen Langlebigkeit etwa den Blumenwachstum als aufschießendes Raketenspektakel erleben würden. – Wir bekommen Giorgio Agambens Hinweis auf den Biologen Jakob von Uexküll vermittelt, der uns die Welt aus der Erlebnisqualität einer Zecke beschreibt. Sie ist reduziert auf drei Faktoren: den Unterschied von Hell und Dunkel, den Duft von Milchsäure, die der Haut von Warmblütern entsteigt und den einzigen Gegenstand von Begehrlichkeit, eine beliebige Flüssigkeit von 37 Grad Wärme. – Und die Philosophin Karen Barad erinnert daran, dass die Elektronen in ihren Umkreisungen um ihre Atomkerne nie lokalisierbar sind und nicht als Dinge, sondern als Bewegung gedacht werden müssen.
Sie entfaltet uns daraus die Welt nicht als Status, sondern als dauernden Prozess: Sein ist prozesshaftes Tun. 

Die Musik (Nicolas Haumann) hat nicht einfach Soundtrackfunktion. Eigenkompositionen, Einspielungen und exzellenten Coverversionen von Stücken aus der Musikgeschichte tragen dazu bei, dass nachgerade eine epistemologische Liturgie entsteht; so etwa Purcell («Oh Solitude»), Bach («Oh Ewigkeit, du Donnerwort»), die Rockband Pixies («Where is my Mind»), Simon and Garfunkel («Sound of Silence»), Sun Lux («Easy, easy. Pull your Heart to make the being alone») und Haumann («Leonore fuhr ums Morgenrot, und als sie rum war, war sie tot»). Auf je eigene Weise helfen sie mit, uns auf eine offene Denkweise einzustimmen und über das Gehörte nachzudenken. «With your feet on the air and your head on the ground», so sollte dieses Hörspiel angehört werden: Mit den Füssen in der Luft und dem Kopf nach unten gebettet, um sich hörend von der Vorstellung unseres durch Schwerkraft geprägten Raumgefühls verabschieden zu können. 

Hat Kant bekannt: «Ich musste das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen», so sind wir von Luise Voigt und ihrem hervorragenden Ensemble dazu eingeladen, eine Stunde lang allen Glauben und alle Meinungen aufzuheben, um für das Bewusstsein der Formenvielfalt und der Grenzen möglichen Wissens Platz zu bekommen. Wir haben die Einladung angenommen und zeichnen «Raumzeit» als Hörspiel des Monats Mai 2024 aus.

Die Jury und der gastgebende Sender 2024

Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur, -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie

Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Lobende Erwähnung: «Schall und Wahn» von William Faulkner

Walter Adlers meisterliche Umsetzung von William Faulkners «Schall und Wahn» (SWR) mit einem glänzenden Großensemble möchten wir dringend empfehlen. Die Produktion mit ihrer hochmusikalischen Verwebung der erzählerischen und der szenischen Ebene erweitert die Buchlektüre um eine wesentliche Erlebnisdimension.

Das Hörspiel des Monats April 2024 

DER STEIN IN DER TASCHE
von Alexander Kluge

  • Regie: Karl Bruckmaier

  • Regieassistenz: Stefanie Ramb

  • Mit: Alexander Kluge, Katja Bürkle, Helga Fellerer, Johannes Herrschmann, Stefan Merki, Meinhard Prill (Prill via Bruckmaier/extern)
    sowie Oskar Negt, Hannelore Hoger, Sandra Hüller und Monika Manz (aus Archiv)

  • Minutensong: Ariel Sharat und Mathias Kom

  • Komposition: Mapstation

  • Ton: Gerhard Wicho

  • Technik: Susanne Herzig, Michael Kurz

  • Redaktion: Katarina Agathos

  • Produktion: BR 2024

  • ESD: 21.04.2024

  • Länge: 70’55

Die Schauspielerin Katja Bürkle während der Aufnahme.
Foto Stefanie Ramb, BR

Der Stein in der Tasche Hörprobe

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Stefan Merki
Foto Stefanie Ramb, BR

Begründung der Jury 

Der aktuelle Anlass? – Die mentale Situation der Zeit mit ihren Rückgriffen auf Mythen nationaler Größe, religiöser Wahrheiten und ideologischer Ausschließlichkeit, die uns erneut Kriege einbrocken und viel Leben kosten. Und das eindringliche Anliegen: Krieg zu beenden und zu vermeiden.

Alexander Kluge nimmt uns mit auf eine weitläufige Gedankenreise, die makrokosmische Dimensionen mit mikrokosmischen verknüpft. So zoomt er von der Unermesslichkeit des physikalischen Universums zur Brüchigkeit der deklarierten Universalität menschlicher Grundwerte in der Aufklärung. Er zeichnet die Entwicklung der Menschheit vom Amphibischen zum Homo sapiens nach. Er führt diesen in seiner nomadischen Frühphase vor, in kleinen Gruppen durch die Eiszeitsteppe stressend, bedroht und immer auf Nahrungssuche. Und er konfrontiert ihn mit dem modernen Menschen der Sesshaftigkeit, der «aggressiv ist bis auf die Knochen». Er wagt den Schritt von der Anthropologie zur eigenen Biografie und zum Kindheitserlebnis des Bombardements seiner Geburtsstadt in den letzten Kriegsmonaten 1945. Es kommen WissenschaftlerInnen zu Wort, die mit exakten Daten und präzisen Hypothesen gewährleisten, dass sich die Reflexionen an Fakten abarbeiten und so im Konkreten bleiben. Aber natürlich kehren die Exkursionen von Astrophysik und Paläontologie stets in die abendländische Geschichte und Perspektive zurück. In anderen Kulturräumen würden zumindest die historischen Assoziationsketten anders aussehen und anmuten.
Der aktuelle Anlass zu all dem? – Die mentale Situation der Zeit mit ihren Rückgriffen auf Mythen nationaler Größe, religiöser Wahrheiten und ideologischer Ausschließlichkeit, die uns erneut Kriege einbrocken und viel Leben kosten. Und das eindringliche Anliegen: Krieg zu beenden und zu vermeiden.

Kluge «weiß ganz genau, dass hier weder zynische Realpolitik die Antwort ist, aber unzynische Realpolitik wiederum richtig.» Allerdings lässt er in uns die Frage aufkommen, wo die Trennlinie zwischen einer unzynischen, also friedensfördernden, Politik und einem suizidalen Pazifismus liegt, wo die Grenze zwischen Paranoia und realer Gefahr.
Auf seine eigenen Kriegserlebnisse angesprochen und auf die Möglichkeit, diese als Filmemacher filmisch darzustellen, winkt er ab mit dem Verdikt, dass die cineastische Überwältigungsästhetik zu Kriegsporno führe. Er braucht ein Format der Ruhe, das ihn in die Genauigkeit gehen lässt, Kommentar und Kritik zulässt. Allerdings befürchtet er, dass er auf diesem Weg nicht endlos mit der Aufmerksamkeit seines Publikums rechnen kann. – Er kann. Denn er hat das von ihm gewählte Hörspielformat exzellent bedient und ausgereizt durch den Einsatz verschiedener Textsorten, die von Mapstation musikalisch kongenial begleitet werden. Man hört den Autor im Live-Gespräch und eigene Texte vorlesend, man hört die Zitate von Fachleuten von SprecherInnen ausgezeichnet vorgetragen. In einem ‘medialen Oxymoron’ taucht originellerweise regelmäßig das Geräusch eines Diaprojektors, gefolgt von einer Bildbeschreibung auf. Und durch den großen, siebzigminütigen Zeitbogen zieht sich Johann Peter Hebels titelgebende Geschichte vom armen Mann, der von einem Reichen geprügelt, vertrieben und mit einem Stein beworfen wird, diesen in seine Tasche steckt und mit sich trägt, bis er seinem Peiniger wiederbegegnet. Der ist nun selber zu Fall gekommen und dem allgemeinen Spott ausgesetzt. Aber die Revanche bleibt aus. Und der Stein in der Tasche wird zum Stein der Weisen. Der Griff zu dieser Anekdote bildet wieder einen kühnen Zoom; er führt von den großen, komplexen Problemen zu einer kleinen, schlichten Lösung, nämlich der, von Rache abzusehen.
Der Autor bekennt sich in einem seiner Statements zu Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, die uns lehrt, dass die Mythen nicht so ursprünglich sind, wie sie sich geben, und die Aufklärung nicht so mythenbefreit, wie sie sich wähnt. Beide bilden bis heute ein Dickicht, durch das wir uns schlagen müssen, um zu einer eigenen Klarheit zu kommen. Mit Kluges Einzelbefunden müssen wir gar nicht immer einverstanden sein. Aber sein Hörspiel ist Sprungbrett und Verlockung, einen Moment lang vom Strom des politischen Alltags abzuheben und in größerem Rahmen Übersicht zu gewinnen.
Darum hat die Jury «Der Stein in der Tasche» zum Hörspiel des Monats April 2024 gewählt.

Die Jury und der gastgebende Sender 2024
Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur, -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie

Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Das Hörspiel des Monats März 2024 

NIE! NIE! NIE!
von Wilhelm Genazino

  • Regie: Ulrich Lampen

  • Mit: Peter Fricke

  • Dramaturgie & Redaktion: Manfred Hess

  • Ton & Technik: Christian Eickhoff, Fabian Vossler, Tanja Hiesch und Sabine Klunzinger

  • Produktion: SWR 2024

  • ESD: 16.03.2024

  • Länge: 52’40

Mit Peter Fricke in allen Rollen sowie Wilhelm Genazino im Originalton aus einem Interview mit Lena Bopp für die Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22.01.2013.

Der Schauspieler Peter Fricke während der Aufnahme.
Foto Dagmar Bejaoui, SWR

Nie! Nie! Nie! Hörprobe

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Peter Fricke mit dem Regisseur Ulrich Lampen.
Foto Dagmar Bejaoui, SWR

Begründung der Jury 

Sind Wilhelm Genazinos Figuren nicht Lebensgehemmte wie viele von uns, die es satthaben, ständig zu reflektieren und doch nicht damit aufhören können? Ein bisschen Kafka, Beckett, Büchner schwingen mit, aber ohne deren Hoffnungslosigkeit.

Wer dem SWR-Hörstück "Nie! Nie! Nie!" von Wilhelm Genazino lauscht, fühlt sich für einen glücklichen Moment dem Blitzlichtgewitter rastloser Diskurse und Moden enthoben. Ein Stück, das sich dem Zeitgeist entzieht, klug, heiter, mit absurdem Humor und manchmal angenehm traurig. So treffen Figuren mit funkelnden Dialogen aufeinander, die selten ohne Ironie auskommen: Kind 1: "Oh, schau! Die Abendsonne versinkt hinter den Kaufhäusern!" Kind 2: "Wie du dich diesen Bildern hingeben kannst! Mir gelingt das immer seltener. Wenn ich Schönheit empfinde, dann weiß ich: Mir geht's im Augenblick nicht besonders gut."

Nicht umsonst möchte die weibliche Protagonistin wohl ein "Büffel" und kein Mensch mehr sein. Anders als bei Kafka ist sie aber nicht im Tierkörper gefangen, sondern wählt ihn selbst aus als eine Fluchtmöglichkeit, als Befreiung. Sinnloser Hast entfliehen ist das Ziel, ideen- und gedankenlos werden. Heimlich wird die Büffelfrau jedoch von ominösen "Wachmännern" beobachtet: "Sollen wir eingreifen?", flüstert der eine. "Sie ist nicht gefährlich..." - "Wenn jemand Anstoß nehmen würde, könnten wir tätig werden.", sagt der andere Wachmann. - "Soll ich Anstoß nehmen?"

In allen Rollen spricht der 84-jährige Peter Fricke. Dazu werden O-Ton-Ausschnitte des Autors aus einem Interview mit der "FAZ" und Gesprächsfetzen der Studioaufnahmen eingewoben, die sich anfühlen, als gehörten sie zu dem absurden Ganzen dazu. 

Sind Wilhelm Genazinos Figuren nicht Lebensgehemmte wie viele von uns, die es satthaben, ständig zu reflektieren und doch nicht damit aufhören können? Ein bisschen Kafka, Beckett, Büchner schwingen mit, aber ohne deren Hoffnungslosigkeit. Es ist, als hätten die Sprechenden ihren Frieden mit der ungenügenden, fehlerhaften, wohl auch sinnlosen Existenz des Menschen gemacht, indem sie darüber lachten, statt zu weinen.

Besänftigt werden sie durch die Betrachtung eines Kleiderbügels, denn anders als dieser fragt sich der Mensch: Wird er morgen noch sein?Mag sein, dass der Schöpfer dieser Zeilen die Welt als zerfetzt wahrgenommen hat. Aber ihre Wunden pflastert er mit feinsinnigem Humor und einer Melancholie, die Schwundstufen menschlicher Existenz ohne Larmoyanz sichtbar zu machen vermag. "Lächerlichkeit kann man nicht belauern. Sie ist sowieso immer da. Sie wartet nur darauf, von uns enthüllt zu werden." Und die Büffelfrau? Die spielt doch nur. Am Montag sitzt sie wieder am Schreibtisch, ist wie alle. Und ihr Irrsinn ist plausibel.


Die Jury und der gastgebende Sender 2024

Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur a.D., -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie
Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Das Hörspiel des Monats Februar 2024 

FÜNF BESTE TAGE
von Erwin Koch

  • Textfassung, Aufnahmen, Sounddesign und Regie: Stefan Weber

  • Mit: Katja Reinke, Vincent Leittersdorf, Thomas Douglas, Katrin Thurm, Peter Kner

  • Dramaturgie: Reto Ott

  • Produktion: SRF 2024

  • ESD: 07.02.2024

  • Länge: 54’20

Stefan Weber und Katja Reinke während der Aufnahme (Foto c SRF)

Fünf beste Tage Hörprobe

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Begründung der Jury

Der Schweizer Autor und Journalist Erwin...

Der Schweizer Autor und Journalist Erwin Koch zeichnet die letzten Tage eines Paares vor dem selbst gewählten Tod der krebskranken Frau durch Inanspruchnahme einer Sterbehilfe nach.
Ein Spiel führt sie in der Endphase ihrer Gemeinsamkeit zu einem großen Beziehungsabenteuer: das gegenseitige Geständnis eines nie gelüfteten, mit größter Scham behafteten Geheimnisses.
Der wunde Punkt einer traurigen Lebensbilanz ihrerseits und seine lebenslange Strategie, dem Schmerz des menschlichen Daseins auszuweichen, werden nebeneinandergelegt. Das letzte Gespräch führt zu einer zuvor nie dagewesenen Nähe zwischen den beiden Menschen, die voneinander Abschied nehmen müssen. Wäre diese intime Offenheit ohne Bewusstsein des Todes und das Zustimmen dazu überhaupt möglich gewesen?

Koch habe, wie im Begleittext festgehalten wird, seine Fiktion an den Erfahrungen seiner journalistisch-dokumentarischen Arbeit orientiert. Tatsächlich ist ihm ein Text gelungen, der die Stationen einer Beziehung präzise absteckt und diese schwerste Lebensstrecke mit eindrucksstarken Bildern ertastet, dabei immer konkret bleibt und dem Unsagbaren seinen gebührenden Platz lässt. Poetisch, genau und situativ fächert er die Vielschichtigkeit von Paarbeziehungen auf, indem er Figuren schafft, die großzügig und ohne die Last der lebenslangen Bewertung auf ihre eigenen Biografien blicken.
Dadurch entsteht ein Hörspiel, das der Schwere des Abschieds trotzt und immer wieder in eine Leichtigkeit hineinführt, zum Beispiel wenn es schließt mit dem Gedankenspiel an zukünftige Wahlmöglichkeiten: “Das nächste Mal bestelle ich den Tod auf sechs Uhr morgens.”

Das Anhören der Produktion wird zu einer taktvollen Sterbebegleitung, die der Komponist und Regisseur Stefan Weber mit einem stimmigen Soundtrack verwoben hat.

Die Jury und der gastgebende Sender 2024

Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur a.D., -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie
Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Das Hörspiel des Monats Januar 2024 

IM AUGE DES STURMS - DAS KAPITOL AM 6. JANUAR 2021
von Maxi Obexer

  • Regie: Gerrit Booms / Regieassistenz: Julia Kiefer

  • Mit: Sabrina Ceesay, Glenn Goltz, Enno Kalisch, Hans-Gerd Kilbinger, Mi Hae Lee, Friederike Linke, Claudius Steffens, Victoria Trauttmansdorff

  • Ton & Technik: Werner Jäger & Barbara Göbel

  • Dramaturgie: Isabel Platthaus

  • Produktion: WDR 2024

  • ESD: 07.01.2024

  • Länge: 52‘57

Bildrechte: picture alliance/AP | Collage: WDR Hörspiel

IM AUGE DES STURMS - DAS KAPITOL AM 6. JANUAR 2021 Hörprobe

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Die Autorin Maxi Obexer
(c) Nane Diehl

zum Hörspiel, zur WDR-Audiothek 

Begründung der Jury

Das Hörspiel gibt nicht nur den Herausforderungen der USA, sondern auch jenen europäischen Demokratien eine Stimme, die auf bedrohliche Weise die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit streifen.

6. Januar 2021, Washington DC. Aus einer politischen Formalie wird ein Drama mit fünf Toten und vielen Verletzten, das als «Der Sturm auf das Kapitol» in die Geschichte eingehen wird – aus diesem Drama entsteht das Doku-Hörspiel «Im Auge des Sturms» von Maxi Obexer für den WDR. Im Kapitol tagt an diesem Tag der Kongress, um den letzten Schritt vor der Ernennung des neuen US-Präsidenten Joe Biden zu vollziehen: die Anerkennung der Wahlergebnisse, welche zuvor Gegenstand von 50 verlorenen Prozessen des Trump-Lagers waren. Parallel dazu wiederholt der noch amtierende Präsident an einer Protestveranstaltung vor zehntausend Anhängern sein Mantra eines groß angelegten «Wahlbetrugs» und ruft seine Fans zum Marsch auf das Kapitol auf: «We are going to walk down to Pennsylvania Avenue…Wir werden nie aufgeben, wir werden nie eine Wahlniederlage anerkennen.»

Die Schriftstellerin Obexer erkannte das theatrale Potential des Kampfs um politische Entscheidungsprozesse: Das Ringen um Positionen, garniert mit patriotischem Pathos, der Druck des Volkszorns auf den plötzlich ungeschützten Raum der Debatte und die daraus resultierende Angst um die eigene Sicherheit ergeben eine brisante Mischung. Das Hörspiel gibt nicht nur den Herausforderungen der USA, sondern auch jenen europäischen Demokratien eine Stimme, die auf bedrohliche Weise die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit streifen. Auf dem Spiel steht nicht weniger als das System selbst.

Die Jury und der gastgebende Sender 2024

Clara Gauthey, Kulturredakteurin Bieler Tagblatt
Claude Pierre Salmony, Hörspielredakteur a.D., -dramaturg, -regisseur
Maria Ursprung, Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin Theater Marie
Gastgebender Sender: Schweizer Radio SRF

Das Hörspiel des Monats Dezember 2023 

DIE VIELEN STIMMEN MEINES BRUDERS
Ein Hörspiel in 48 Takes
von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster

  • Regie: Anouschka Trocker / Regieassistenz Swantje Reuter

  • Mit: Leonard Grobien, Florentine Krafft, Samuel Koch, Godehard Giese, Tobias Kluckert, Martin Engler, Levin Çavuşoğlu, Tobias Herzberg

  • Komposition: Liz Allbee

  • Ton & Technik: Martin Eichenberg & Gunda Herke

  • Redaktion: Barbara Gerland

  • Dramaturgie: Julia Gabel & Johann Mittmann

  • Besetzung: Jutta Kommnick

  • Produktion: Deutschlandfunk Kultur / ORF 2023

  • ESD: 07.12.2023

  • Länge: 55‘31

Leonard Grobien und Florentine Krafft bei der Aufnahme
(c) Deutschlandradio Swantje Reuter

Die vielen Stimmen meines Bruders Hörprobe

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Der Tontechniker Martin Eichberg und die Regiseurin Anouschka Trocker bei der Aufnahme
(c) Deutschlandradio Swantje Reuter

zum Hörspiel, zur ARD-Audiothek 

Die Musikerin/Komponistin Liz Albee
(c) Deutschlandradio Swantje Reuter

Begründung der Jury, verfasst von Yasmine M'Barek

Verflechtung realer Ereignisse mit der philosophischen Ebene

Das Hörspiel “Die vielen Stimmen meines Bruders” überzeugte die Jury eindrücklich, vor allem durch den Fokus auf das Thema, was Hörspiele ohne bereits auszeichnet, nämlich die Stimme, ihr Privileg, ihre Bürde, ihre Macht – und die Frage nach hypothetischer Selbstinszenierung. Fiktion und Realität werden miteinander vermischt, und mit Hinblick auf die persönliche Geschichte Magdalena Schrefels berührt “Die vielen Stimmen meines Bruders” noch weit nach dem Hören.

Jedoch sind wir nicht nur inhaltlich überzeugt, auch das Ensemble der ausgewählten Sprecher perfektioniert das Hörerlebnis sowie die gewählte Taktung in 48 Takes.  

Besonders zu loben ist die Verflechtung der realen Ereignisse mit der philosophischen Ebene, die den Hörer getroffen, nachdenklich und erstaunt zurücklässt.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Gastgebender Sender: WDR

Der Schauspieler Leonard Grobien und die Regiseurin Anouschka Trocker während der Aufnahmen
(c) Deutschlandradio Swantje Reuter

Die Neuen für's Hörspiel 

Die neue Jury für das Hörspiel des Monats/Jahres 2024 hat ihre Arbeit aufgenommen!

Das Team besteht aus Clara Gauthey, Claude Pierre Salmony und Maria Ursprung.

Wir freuen uns sehr und sind gespannt auf die Entscheidungen im Hörspieljahrgang 2024.
Das Schweizer Radio SRF ist 2024 der gastgebende Sender – wir danken für den Vorschlag zur Zusammensetzung der neuen Jury!

Clara Gauthey ist Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur-, Theater-, Hörspielkritiken beim Bieler Tagblatt. Nach Studium der Neueren deutschen Literatur, Altgermanistik und Kunstgeschichte berufsbegleitende Ausbildung am Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern.

(Foto CLG)

Claude Pierre Salmony hat nach einem Studium der Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft und einer betriebsinternen Ausbildung bei Schweizer Radio SRF als Regisseur, Dramaturg und Redakteur vierzig Jahre lang Hörspiele realisiert und an der Gestaltung des Hörspielprogrammes mitgewirkt.

(Foto CPS)

Maria Ursprung ist Dramatikerin und Regisseurin, sie schreibt Theaterstücke und Hörspiele. Als Theaterautorin schrieb sie zuletzt für das Deutsche Theater Berlin und war Hausautorin am Theater St. Gallen. Seit 2022 Co-Leiterin des freien Theaterproduktionsortes Theater Marie.

(Foto F. Baechli)

Für die inspirierende Zusammenarbeit danken wir der 2023-Jury: Yasmine M‘Barek, Miedya Mahmod und Horst Wegener unseren sehr herzlichen Dank für ihre Sicht auf den zurückliegenden Hörspieljahrgang. Stefan Cordes einen großen Dank für Koordination und Betreuung seitens des WDR.

Das Hörspiel des Monats November 2023 

DIE KONFERENZ DER FLÜSSE
von Denise Reimann und Frank Raddatz

  • Bearbeitung & Regie: Leopold von Verschuer

  • Regieassistenz: Beate Becker/Gerald Michel

  • Mit: Mazen Aljubbeh, Sandra Bourdonnec, Eva Brunner, Jeff Burrell, Hannah Cloke, Long Dang-Ngoc, Martin Engler, Darinka Ezeta, Maren-Kea Freese, Silke Geertz, Jens Harzer, Amr Kassem, Tony de Maeyer, Anne Müller, Norbert Scheuer, Lore Stefanek, Carolina Riaño Gómez, Ilse Ritter, Matthissa Röggla, Ruth Rosenfeld, Leopold von Verschuer, Juliane Werner, Fang Yu, Hanns Zischler

  • Komposition: Bo Wiget

  • Ton & Schnitt: Jean Szymczak

  • Redaktion: Christine Grimm

  • Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2023

  • ESD: 12./19.11.2023

  • Länge 6 Teile: Teil 1: 30’09; Teil 2: 30’59; Teil 3: 24’28; Teil 4: 30:26; Teil 5: 29’37; Teil 6: 30‘12

Carolina Riano Gomez, Juliane Werner und Ruth Rosenfeld während der Aufnahme (Foto Deutschlandradio / Beate Becker)

Die Konferenz der Flüsse Hörprobe

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Jens Harzer während der Aufnahmen (Foto Deutschlandradio / Beate Becker)

zum Hörspiel, zur Deutschlandradio Audiothek 

Begründung der Jury, verfasst von Miedya Mahmod

Die Flüsse erinnern alles, solange alles im Fluss ist.

Diese Jurybegründung findet ihre ersten Sätze auf einer Reise, über Land- und Luftweg, ins Zweistromland – auch: Mesopotamien.

Sie sucht ihre letzten Sätze auf einer Konferenz zwischen den Flüssen – auch: méso potamói.

Die aquakulturelle Revolution geht uns alle an. Wir alle werden von ihr beein-flusst werden. Keine Flussbegradigung wird das verhindern, kein Staudamm stoppen. Wir müssen also die Quellen verstehen, die abseits der Schriften, Papiere, Bibliotheken liegen. Wir können uns ruhig vor den Strömungen fürchten. Wir dürfen uns aber auch von ihnen mitnehmen lassen.

Wir, d.h. die fragile Behauptung eines ‚wir‘ für die Menschen; Wir müssen uns nicht im Einzelnen an die Details erinnern, um zu wissen, dass es stimmt.

Die Flüsse erinnern alles, solange alles im Fluss ist.

Wie könnten sie nicht? In ihren Armen wiegten sie die ersten Hochkulturen der Menschheitsgeschichte. Aus ihren Ufern stiegen wir zuvor zweibeinig, gingen aufrecht und folgten dennoch lange Zeit ihrem Lauf. An ihren Mündungen verbrannten wir unsere Toten, an ihren Mündungen tranken wir um unser Leben.

Wir, als planetare Lebensformen (die zu ca. 70% +/- aus Wasser bestehen), danken Donau, Rhein, Spree, Styx, Rio Magdalena, Jangtse, Nil, Mississippi, Garonne, Mekong, Ahr, Rio Vilcabamba, Euphrat, Jordan, Senne für die herausragende

Arbeit als Vertreter*innen der globalen Flussgemeinschaft, aber auch als Stimmen ihres eigenen Rauschen und wollen außerdem, als Hörspieljury, dem für das menschliche Ohr aufbereiteten Audio-Material, das aus ihrer Konferenz entsprungen ist, den Preis für das Hörspiel des Monats November verleihen.

Unsere Gratulationen richten sich auch an die Kompliz*innen, die bei der Aufbereitung jener Konferenz der Flüsse, die ihren Abschluss und Höhepunkt in einer weltverwässernden, aber -bessernden meinend, Resolution, einer Charta der Flüsse, geholfen haben.

Namentlich genannt seien u.a. Denise Reimann und Frank Raddatz als Protokollant*innen im Sinne einer post-anthropozentrischen Verständigungs- und damit Versöhnungspolitik, ihre Teamkolleg*innen und DLF Kultur als erste Sendeanstalt, die ausführlich zur Resolutionsfindung und dem Hintergrund der Charta berichtete.

Alles daran und darin fließt ineinander über und geht unter die (Wasser)Oberfläche, die mehr sein will als der Blick in die eigene Spiegelung.

‚Insbesondere (heben wir) das Recht gehört zu werden, das Recht

auf Leben, das Recht zu fließen und das Recht zu mäandern [!!!] als

zukunftsweisend hervor.‘

 

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Gastgebender Sender: WDR

 

Sandra Bourdonnec bei der Aufnahme (Foto Deutschlandradio / Beate Becker)

Lobende Erwähnung 

Lobende Erwähnung
Die Jury ist sich zudem einig darin, eine lobende Erwähnung auszusprechen für die ORF-Produktion ‚Blasse Stunden/Blijedi sati‘.
Der Text der Autorin Manuela Tomic setzt szenenweise poetische Sprengkraft frei, die unter der Regie von Andreas Jungwirth in beste Richtungen gelenkt wird, wobei gerade der versierte Einsatz sprachlicher Verschiebungen, Übersetzung und Unübersetzbarkeit sowie Zweisprachigkeit als maßgebliches Mittel zum Erzählen einer Geschichte herausragend gelingt.

Das Hörspiel des Monats Oktober 2023 

ÜBER DAS VERSCHWINDEN
von Horst Konietzny

  • Text & Regie: Horst Konietzny

  • Mitarbeit: Marvin Forster und Mia Weisz

  • Mit: Claudia Cervenca und Christian Reiner

  • Musik & Komposition: Ardhi Engl

  • Ton & Schnitt: Elmar Peinelt und Manuel Radinger

  • Redaktion: Elisabeth Zimmermann

  • Produktion: ORF 2023

  • ESD: 03.10.2023

  • Länge: 51‘08‘‘

Ardhi Engl, Claudia Cervenca und Christian Reiner bei der Produktion
Foto Horst Konietzny

Über das Verschwinden Hörprobe

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Christian Reiner bei der Produktion
Foto Horst Konietzny

Begründung der Jury, verfasst von Horst Wegener

Die Jury des Hörspiel des Monats...

Die Jury des Hörspiel des Monats hat das Stück "Über das Verschwinden" als Hörspiel des Monats Oktober gekürt. "Über das Verschwinden" von Horst Konietzny, produziert vom ORF 2023, ist zweifellos ein Hörspiel, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es entführt die Zuhörer in die faszinierende und düstere Welt des Verschwindens. Ein Thema, das eine schaurige Anziehungskraft ausübt und zugleich mit einer tiefen Melancholie behaftet ist. Die herausragenden Sprecher, insbesondere Claudia Cervenca und Christian Reiner, verleihen dem Werk eine eindrucksvolle emotionale Tiefe. Regisseur Horst Konietzny schafft eine einzigartige Hörerfahrung, unterstützt von der passenden Musik von Ardhi Engl. "Über das Verschwinden" erinnert in einer Ära der ständigen Präsenz an die Bedeutung des Rückzugs und der Leerstellen, und fordert dazu auf, die Botschaft des Verschwindens zu verstehen. Die tiefsinnige Darstellung und die brillante Umsetzung machen dieses Hörspiel zu einem herausragenden Werk, das zum Nachdenken anregt und lange nachklingt.
Ein bemerkenswertes Hörspiel, das die Jury einstimmig begeistert hat.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023
Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Gastgebender Sender: WDR

Ardhi Engl, Claudia Cervenca und Christian Reiner bei der Produktion
Foto Horst Konietzny

Das Hörspiel des Monats September 2023 

DESIRE - Über Sex, Arbeit und queeres Begehren
6-teilige Podcast-Serie von Tia Morgen

FOLGE 1 Meet Sam (Länge:29‘29‘‘)
FOLGE 2 Meet Lilli (Länge: 27‘38‘‘)
FOLGE 3 Meet Robin (Länge: 28’03‘‘)
FOLGE 4 Sam again (Länge: 28’51‘‘)
FOLGE 5 Lilli again (Länge: 28’04'')
FOLGE 6 Robin again (Länge: 27’14“)

  • Text: Tia Morgen

  • Regie: Tara Afsah, Tia Morgen

  • Mit: Duygu Ağal, Lina Bembe, Knut Berger, Mareike Beykirch, Newroz Çelik, Ruby Commey, Yuyu Elmi, Jasko Fide, Joy Grant, Eva Maria Jost, Eva Meckbach, Maximilian Mundt, Thiago Braga de Oliveira, Benjamin Radjaipour, Marie Sive, Anton Weil, Derya Yıldırım

  • Komposition: Hanna Elizabeth Bratton

  • Ton & Technik: Nick-Julian Lehmann

  • Redaktion: Felicitas Arnold, Natalie Szallies

  • Produktion: WDR 2023

  • ESD: 25.09.2023

Newroz Çelik, Marie Sive, Tara Afsah, Joy Grant und Tia Morgen bei der Produktion
Foto Jasko Fide

Desire Hörprobe

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Jasko Fide, Marie Sive, Joy Grant und Newroz Çelik während der Produktion
Foto Tia Morgen

Zur 6-teiligen Podcast-Serie in der WDR Audiothek

Klare Sprache für sensible Themen 

Begründung der Jury, verfasst von Yasmine M’Barek

Ungeniert, direkt und ungefiltert

Mit dem Hörspiel “Desire - Über “Sex, Arbeit und queeres Begehren” wurden wir als Jury überrascht und begeistert, nicht zuletzt durch die sich durchziehende Spannung der Geschichte selbst, aber auch durch die qualitativ hochwertige Produktion. Tia Morgan gelang durch ihre thematische Tiefe und differenzierte Sichtweise ein einzigartiger Zugang – und ein horizonterweiterndes Hörerlebnis.

Ungeniert, direkt und ungefiltert begeistert die Produktion dieses Hörspiels die gesamte Jury. Die penetrante Abwesenheit von Spießigkeit und die doch von Beginn an gefundenen, klaren Sprache, die zwei sensible Themen hervorragend vereint, mündet darin, dass es für jeden, der es hört, erhellend sein wird. Ein großer Dienst an einer Community, die sonst stereotypisch und eindimensional betrachtet wird.

Der transparente Wille, ehrlich über diese Themen zu sprechen, war eine gute Wahl, weil es zunächst so wirkt, als sei man auf das kommende vorbereitet, die Dimension beim Hören durchgehend überwältigend bleibt.

Besonders zu loben ist die Wahl der Sprecher sowie die musikalische Untermalung, die das Hörerlebnis nahbar und jung gestalten.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Gastgebender Sender: WDR

Die Autorin Tia Morgen
Foto Jasko Fide

Das Hörspiel des Monats August 2023 

V 13 Chronique judiciaire
Hörspiel nach dem gleichnamigen Tatsachenroman von Emmanuel Carrère, aus dem Französischen von Claudia Hamm

Länge: 89‘12‘‘

sowie

V 13 Die Terroranschläge in Paris
8-teilige Podcastserie von Emmanuel Carrère, aus dem Französischen von Claudia Hamm

FOLGE 1 Der Erste Prozesstag (Länge:24‘17‘‘)
FOLGE 2 Ein Gespenst (Länge: 23‘31‘‘)
FOLGE 3 Überlebende und Hinterbliebene (Länge: 23’45‘‘)
FOLGE 4 Die Angeklagten (Länge: 22’16‘‘)
FOLGE 5 Gendarmen und Geheimdienst (Länge: 21’12‘‘)
FOLGE 6 Dschihad (Länge: 21’51“)
FOLGE 7 Countdown (Länge: 29’02‘‘)
FOLGE 8 Gerechtigkeit (Länge: 29’36‘‘)
Gesamtzeit: 195‘30‘‘ (3 Stunden 15 Min 30 Sek)

  • Bearbeitung & Regie: Leonhard Koppelmann

  • Mit: Ulrich Matthes, Maren Eggert, Constanze Becker und Alexander Simon

  • Musik: zeitblom

  • Ton & Technik: Andreas Völzing, John Krol und Alexander Nottny

  • Dramaturgie & Redaktion: Manfred Hess

  • Produktion: SWR 2023

  • ESD: 26.08.2023

V 13 Chronique judiciaire Hörprobe

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Ulrich Matthes bei Wortaufnahmen von V13
(c) SWR, Leonhard Koppelmann

Zur Hörspielfassung in der SWR Audiothek

 

Zur 8-teiligen Podcast-Serie in der SWR Audiothek

Leonhard Koppelmann und Ulrich Matthes
(c) SWR, Leonhard Koppelmann

‚Krass.‘ – ‚Ja, krass.‘ – ‚Puh.‘  

Begründung der Jury, verfasst von Miedya Mahmod

wirklich herausragende Qualität des Stücks

Es ist 21:04 Uhr. Es beginnt: Der erste Prozesstag.

So heißt das erste Kapitel unseres Hörspiel des Monats August.

Der Sound ist sehr gut, sehr sauber. Der Musikeinsatz entwickelt eine ganz eigene Immersivität. Die langjährige Erfahrung im Realisieren von Hörspielmusik des hierbei Verantwortlichen, Komponist und Musiker zeitblom, verwundert nicht. Langsam, aber umso tiefer, entwickelt sich ein Sog aus Tönen. Gleichzeitig: Störungen, immer wieder. Leise, aber in ihrer Tonhöhe mal bedrängende, mal bedrückende und nahezu schmerzhafte lange Soundfrequenzen im Hintergrund.

Mein Mitbewohner fragt mich zu Beginn, ob dieses Piepen, dieses Pfeifen an einer Stelle auch vom Hörspiel sei. Ich bejahe und erzähle, warum ich den Einsatz bisher ziemlich stark finde, und direkt hinterher: ‚Soll ich doch lieber wieder auf Kopfhörer wechseln?‘ -  ‚Nein, nein. Lass weiterlaufen.‘ Er verstand, warum ich es gut fand an der Stelle, er habe nur deswegen da gerade wirklich kaum mehr hinhören können. Ich nickte und sagte: Genau!

Das gleichnamige Hörspiel nach dem Tatsachenroman V 13 Chronique judiciaire, der jüngsten Buchveröffentlichung des französischen Autoren Emmanuel Carrère (*1957), ist extrem dicht.

Verhandelt werden u.a.: Fragen der Gerechtigkeit und des Rechts. Fragen nach politischer Verantwortung und demokratischen Errungenschaften. Fragen der Ethik und Affektivität von Menschen. Komplexitäten neben Wahllosigkeit. Zig Einzelschicksale von Überlebenden über das Sterben, von Angehörigen über den Verlust. Grauen und Trauer.

Inhalte, bei denen es nur menschlich wäre, irgendwann nicht mehr hinhören zu können oder wollen. Eigentlich.

Dem Team hinter der Produktion gelingt es erzählerisch und formal, eine Unmenge von Stimmen, die zum kollektiven Trauma des 13. November 2015 aussagen, über das Davor/das Danach sprechen, so aufzunehmen, dass ich als Zuhörer:in den Eindruck einer kollektiven Erzählung bekomme. Die wirklich herausragende Qualität des Stücks ist, dass dieser Effekt dabei nicht auf Kosten der individuellen Stimmen, der Einzelpersonen mit ihren ganz eigenen, einzigartigen Geschichten geht. Aus diversen Perspektiven auf die Ereignisse jener Nacht schauend, verschiedene Vektoren des Prozesses vermessend, gelangen Carrères einordnende Passagen mit allen Ambivalenzen, und es sind einige brillante dabei, stets zum richtigen Zeitpunkt und mit einer Bestimmtheit ins Ohr, die fast erleichternd ist, wäre alles davor, alles danach nicht von so immenser Intensivität.

Gegen halb 1 in der Nacht schauen mein Mitbewohner und ich uns an.
Versehentlich gebinge-listened, das ist mir so auch noch nie passiert.

‚Krass.‘ – ‚Ja, krass.‘ – ‚Puh.‘ 

In den letzten Stunden wurde so einige Male laut Luft ausgestoßen. Was eben passiert, wenn man unmerklich den Atem anhält. Unsere Atmung brach sich Bahn, mehrfach musste sie das an jenem Abend.

Die Dramaturgie des 8-teiligen Werks sorgt für eine extrem hohe Spannung, bleibt dabei aber informativ. So übersichtlich in der Strukturierung wie nur möglich bei komplexem Ausgangsmaterial wie der dokumentarischen Prosa, die zwischen Linearität und Non-Linearität, objektiven Tatsachen und subjektiven Reflektionen changiert, wird hier immens viel Thrill erzeugt. Ich meine nicht den des Voyeurs, des gewöhnlichen Thrillers. Natürlich begleiten wir Carrère als Prozessbeobachter, natürlich war der Prozess ein mediales Spektakel. Dennoch, es ist ein anderer Thrill, den ich hier meine. Eher einer des Reporters, der Re-portage. Wer mag, macht sich jetzt die Mühe die etymologische Herkunft letzteren Wortes zu recherchieren.

Die Entscheidung, eine 90-minütige Hörspielfassung als Einteiler und eine Podcastserie von 8 Folgen aus dem Stoff zu machen, mag erstmal irritieren. Hört man beide Fassungen, wird jedoch klar, dass keine bloße Zusammenfassung vorliegt, die sich unzureichend mit einem vermeintlich Wesentlichen oder Sachlichen bemüht, Carrères Tatsachenroman auf Faktizität einzukochen. Selten habe ich in einer Audioproduktion so deutlich einen Stil, eine Signatur im Schnitt sehen können wie hier. Ich persönlich empfehle Ihnen natürlich stärkstens die dreistündige Serie zu hören, mindestens. Als Serviervorschlag ans Herz legen möchte ich, den Einteiler entweder im Vorhinein (wenn das Spiel mit Leerstellen und Chiffren einen reizt) oder im Nachgang (falls Informationslücken einen zu stark vom bewussten Hörgenuss abhalten), jedenfalls ergänzend zur gehörten Serie zu hören. Mit der Reduktion auf die Literazität und Prosaqualität der Buchvorlage wird bei der kleinen Variante ein künstlerischer Anspruch bewahrt, wie man es sich in Zeiten von (an dieser Stelle nicht weiter zu problematisierten und damit doch auch unfreiwillig beworbenen) Apps wie Blink ist kaum mehr vorstellen kann. Eine große und sehr seltene Leistung. Selten, nicht, weil es nicht möglich ist. Das hat das Team um Leonhard Koppelmann und Manfred Hess ja hiermit bewiesen. Sondern weil es ein hohes Maß an konzentrierten Arbeitsstunden und v.a. Mut zu einer solchen Entscheidung erfordert.

In beiden Fassungen wird sich dem heutzutage leicht gefundenem Publikum der True Crime-Erzählung bewusst abgewandt. V 13 will kein Justizdrama sein, viel zu klar und unaufgeregt klingen lange Passagen des Stücks. Noch genügen sich Regie und Ton damit, den Klang bloßer Berichterstattung zu imitieren, was womöglich die sicherere, risikoärmere Variante gewesen wäre. Carréres eigener Stil, die Buchvorlage, mag da eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Übersetzung, die französische Zeug*innenaussagen zu deutschen Text gewandelt hat (der Intensität der Sätze keinen merklichen Abbruch tuend) sicherlich auch. Dennoch sei an dieser Stelle die Drehbucharbeit und die Sprecher*innenleistung gelobt, die vermag eine geteilte Geschichte zu erzählen und beide Bedeutungen des Teilens darin durchklingen zu lassen: die Teilung im Sinne der Spaltung, Zerrissenheiten, Bruchteile wie auch das Teilen als Gemeinschaftliches, als Mitteilen oder anderssprachig: (to) share. Eine großartige literarische Übertragungsleistung, die nicht bloß als vertontes Buch zu verstehen ist, sondern in beiden Varianten einen besonderen Mehrwert liefert.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Gastgebender Sender: WDR

Das Hörspiel des Monats Juli 2023 

Zärtlichkeiten
Zehn kurze Geschichten über Nähe und Verbundenheit
Nach einer Konzeptidee von Paulina Czienskowski

  • Autor*innen: Jakob Nolte, Karosh Taha, Paulina Czienskowski, Duygu Ağal, Fikri Anıl Altıntaş, Miku Sophie Kühmel, Karen Köhler, Theresia Enzensberger, Fabian Saul & Senthuran Varatharajah sowie Julia Weber

  • Bearbeitung & Regie: Judith Lorentz (Ausnahme: „Und das ist, was du lieben und wissen musst“ von Fabian Saul)

  • Regieassistenz: Vanessa Gräfingholt

  • Mit: Taner Şahintürk, Ercan Durmaz, Leonie Benesch, Aysima Ergün, Amina Merai, Vernesa Berbo, Axel Prahl, Rubi Lorentz, Britta Steffenhagen, Mira Partecke, Hildegard Schmahl, Abak Safaei-Rad, Banafshe Hourmazdi, Valery Tscheplanowa, Fabian Saul & Senthuran Varatharajah

  • Ton/Technik: Martin Eichberg, Frank Klein

  • Komposition: Philipp Johann Thimm

  • Redaktion: Christine Grimm

  • Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2023

  • ESD: 23.07.2023

Zwei Freundinnen sind im Urlaub – Jakob Nolte (Länge: 9’04)
Ein Tier gesteht nicht – Karosh Taha (Länge: 13‘28)
Rotkohl mit Sahne – Paulina Czienskowski (Länge: 16‘19)
Bruderherz – Duygu Ağal (Länge: 11‘30)
Deine Hand ist gut, da wo sie ist – Fikri Anıl Altıntaş (Länge: 11‘34)
Sind wir schon da? – Miku Sophie Kühmel (Länge: 15‘03)
Uber alles – Karen Köhler (Länge: 14‘50)
Schneckensex – Theresia Enzensberger (Länge: 11‘19)
Und das ist, was du lieben und wissen musst – Fabian Saul & Senthuran Varatharajah (Länge: 10’03)
Ruth – Julia Weber (Länge: 9‘15)

Zärtlichkeiten - Zwei Freundinnen sind im Urlaub von Jakob Nolte Hörprobe

/

Banafshe Hourmazdi (links) und Judith Lorentz (rechts) während der Produktion
(c) Deutschlandradio Vanessa Gräfingholt

Zum Hörspiel in der Deutschlandradio Audiothek

Judith Lorentz, Leonie Benesch und Abak Safaei-Rad während der Produktion (v.l.n.r.)
(c) Deutschlandradio Vanessa Gräfingholt

Begründung der Jury, verfasst von Horst Wegener

Facettenreiche Darstellung von Zärtlichkeit in all ihren Nuancen

Mit „Zärtlichkeiten“ liefert Deutschlandfunk Kultur eine besondere Art und Weise, sich mit der Begrifflichkeit Zärtlichkeit auseinanderzusetzen. „Zärtlichkeiten“ ist eine berührende Hörspielreihe, wie sie zehn kurze Geschichten über Nähe und Verbundenheit präsentiert und dem Publikum näher bringt. Die Diversität der verschiedene Autor*innen & Protagonist*innen aus Deutschland liefern dabei eine facettenreiche Darstellung von Zärtlichkeit in all ihren Nuancen. Dabei berührt, dass trotz der Härten der Welt und Herausforderungen wie Gewalt, Verlust und Schmerz, die Verbindung zwischen den Menschen bestehen bleibt.

Die Jury beeindruckt, wie jede Geschichte eine einzigartige, aber gleichzeitig auch nachvollziehbare Begegnungen zwischen Menschen mit unterschiedlichen Lebenswegen erzählt. „Zärtlichkeit“ zeigt sich in Momenten in der Familie, in Paarbeziehungen, unter Freunden und auch unter Fremden. Sie fungiert als radikale Antwort auf Gewalt, als Sehnsucht nach Liebe und Nähe oder als Weg, Halt in Zeiten des Wandels und der Unsicherheit zu finden.

Die Hörspielreihe zeichnet sich durch eine beeindruckende Besetzung aus, die die Geschichten mit ihren emotionalen und kraftvollen Darstellungen zum Leben erweckt. Die Autor*innen liefern dabei einfühlsame und berührende Texte, die die Hörerinnen und Hörer tief in die Gefühlswelten der Charaktere eintauchen lassen.

Insgesamt bietet „Zärtlichkeiten“ eine intime und bewegende Erfahrung, die das Publikum dazu einlädt, über die Bedeutung von Nähe und Zärtlichkeit nachzudenken. Die verschiedenen Geschichten zeigen auf einfühlsame Weise, wie kleine Gesten der Zärtlichkeit uns verbinden und unser Leben bereichern können. Die vielfältigen Perspektiven und die eindrucksvolle Inszenierung machen dieses Hörspiel zu einer empfehlenswerten und berührenden Hörerfahrung.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Gastgebender Sender: WDR

Das Hörspiel des Monats Juni 2023 

DIE WOCHE

Hörspielserie nach dem Roman von Heike Geißler

  • Regie & Redaktion: Stefan Kanis

  • Mit: Anja Schneider, Katharina Marie Schubert, Thomas Thieme, Bernhard Schütz, Birte Schnöink, Niklas Wetzel, Konrad Schreiter, Michael Hinze

  • Ton: Holger König

  • Regieassistenz: Anne Osterloh

  • Produktion: MDR 2023

  • ESD: 26.06.2023

  • Länge: Folge 1: 23’07, Folge 2: 21’44, Folge 3: 25’17, Folge 4: 24’34, Folge 5: 13’42, Folge 6: 20’59, Folge 7: 17‘44

Die Woche Hörprobe

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Die Autorin Heike Geißler
(c) Heike Steinweg, Suhrkamp Verlag

Zum Hörspiel in der MDR-Audiothek

Anja Schneider bei einer Hörspielproduktion
(c) MDR, Olaf Parusel

Begründung der Jury

Eine spannende als auch beklemmende Reise

Mit dem Hörspiel “Die Woche” nach dem gleichnamigen Roman von Heike Geißler gelingt der Autorin und der Produktion ein einzigartiger Spannungsbogen. Die Vorstellung, jeden Tag Montag – und somit jeden Tag wieder neu in die Woche einsteigen zu müssen, wird für den Zuhörer eine spannende als auch beklemmende Reise. Denn nicht nur ist es immer Montag, die täglich stattfindenden Demonstrationen haben sich den Namen vom Montag ausgeborgt. Die als Roman glänzende Erzählung lebt nochmal neu und besser auf.
Mit den beiden Protagonistinnen wird die Handlung besonders gelungen erzählt, und durch den manchmal frechen Ton und mit der passenden Besetzung der Sprecherinnen ist das Gesamtpaket überragend. Die Geschichte, die politisch sowie gesellschaftlich relevant ist und auf der Metaebene jeden abholen kann, überzeugte die Jury eindrücklich.
An dieser Stelle ein Zitat, dass sowohl die lyrische als inhaltliche Leistung unter anderem hervorhebt: “Was ist denn das für ein liebreizender Tag, aus dem später ein räudiger wird? Ein Tag, der die Sonne in die Küche scheinen lässt, der Baustelle im Hinterhof noch Ruhe verordnet hat und eine frische Brise durch die offenen Fenster in alle Räume schickt?”. Besonders die musikalische Untermalung, mal mystisch, mal komisch, immer passend, die aufwühlende Einführung in die jeweiligen Folgen unterstreichen unsere Entscheidung.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Gastgebender Sender: WDR

Katharina Marie Schubert bei einer Hörspielproduktion
(c) MDR, Olaf Parusel

Thomas Thieme bei einer Hörspielproduktion
(c) MDR, Thekla Harre

Das Hörspiel des Monats Mai 2023 

TIEFER SINKEN IN SANDIGEN GRUND

von Lena Müller und Leo Weyreter

  • Regie: Anouschka Trocker

  • Mit: Anne Müller, Veronika Bachfischer, Maren Kroymann, Tatja Seibt

  • Musik: Margareth Kammerer

  • Ton / Schnitt: Bernd Bechthold / Katrin Witt

  • Redaktion: Juliane Schmidt

  • Regieassistenz: Eunike Kramer

  • Produktion: RBB 2023

  • ESD: 05.05.2023

  • Länge: ca. 58‘02''

Maren Kroymann und Tanja Seibt bei der Produktion
(c) rbb Thomas Ernst

Tiefer sinken auf sandigen Grund Hörprobe

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Zum Hörspiel in der RBB-Audiothek

Veronika Bachfischer während der Produktion
(c) rbb Thomas Ernst

Begründung der Jury

Die Produktion des RBB sorgte im...

Die Produktion des RBB sorgte im Monat Mai aus Sicht der Jury mit einem Hörspiel über nicht erfüllte Kinderwünsche, ungeplante Schwangerschaften, queer-feministische Theorien für einen sensibel konzipierten Blickwinkel jenseits der heteronormativen Familienbilder.
Dabei überzeugte die Jury die von Lena Müller und Leo Weyreter gefühlvoll und nahbar geschriebenen Einblicke unterschiedlicher Protagonistinnen.

Das wohl platzierte und subtil die Stimmung verstärkende Sounddesign komplettierte das Hörspiel genauso wie die Auswahl der Musik. Die angenehmen Stimmen der Sprecher*innen machten es der Jury einfach, einem komplexen und sensiblen Thema über die gesamte Strecke zu folgen. Die unterschiedlichen geschaffene Blickwinkel auf die Frage des Kinderwunschs schufen bei aller Diversität die Möglichkeit, sehr nah an die Gefühlswelten der Protagonist*innen zu gelangen und dabei beeindruckende neue Blickwinkel auf ein großes, aber bisher noch nicht breit platziertes Thema zu setzen. Daher überzeugt das Hörspiel in ganzer Linie die Jury und setzte sich im Monat Mai gegen die
andern Einreichungen durch.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent
Gastgebender Sender: WDR

Anne Müller und Veronika Bachfischer
(c) rbb Thomas Ernst

Das Hörspiel des Monats April 2023 

PLAYBLACK RADIO

von Joana Tischkau und Jan Gehmlich

  • Regie: Joana Tischkau und Jan Gehmlich

  • Mit: Engelbert von Nordhausen, Claudia Urbschat-Mingues, Tobias Schmitz, Agnes Lampkin, Samia Dauenhauer, Karmela Shako, Akeem van Flodrop, Calvin Burke, Henry Morales, Luca Müller

  • Komposition: Diana Ezerex, Sydney Frenz, Oihane Schmutte

  • Ton/Technik: Barbara Göbel und Dirk Hülsenbusch

  • Dramaturgie: Jan Buck

  • Produktion: WDR 2023

  • ESD: 30.04.2023

  • Länge: ca. 53‘

Die Autor:innen und Regieseur:innen

Joana Tischkau und Jan Gehmlich (© Claudia Urbschat-Mingues)

Playblack Radio Hörprobe

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Zum Hörspiel in der WDR-Audiothek

Begründung der Jury

Begründung, verfasst von Miedya Mahmod

Eine Stimme formt sich nicht nur aus den Lauten und Tönen, die das Selbst aus seinem Körper hervorbringt. Auch die Resonanz des Anderen, wortwörtlich seines Klangkörpers, spielt eine Rolle.
Bevor wir zur Resonanz der Jury auf das Hörspiel des Monats April kommen, ein persönlicher Anklang zum Anfang:

Script/Continuity heißt das Aufgabenfeld in der Film-/Fernsehproduktion, das u.a. für die Vermeidung von Anschlussfehlern verantwortlich ist. Oder dramatischer: den Schutz von Konsistenz, Logik, des Raum-Zeit-Kontinuums, die Ermöglichung der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit (suspension of disbelief), Erhaltung einer Illusion von Realität.

Vor einigen Jahren meinte ich (erleichtert) zu bemerken, dass Übersetzen & Neuvertonen diegetischer Musik bzw. schauspielerischer Gesangsstimmen in deutschen Fassungen fremdsprachiger Filme abgenommen hätte.
Wo diegetische Musik, die innerhalb der Handlung vom Objekt ausgeht - beispielsweise aus einem Autoradio oder ‚DER Band‘ als Requisite, nicht als eigenständiger Akteur – meist unberührt blieb, schien die vollständige sprachliche, sprich stimmliche, Durchdringung des Schauspieler*innenkörpers integraler Teil eines deutschen Verständnis von Continuity Editing.

Übrigens: Das Pendant zu Script/Continuity im englischen / US-amerikanischen Raum stellt der Script Overseer Supervisor dar.

Es wäre ein Leichtes beim Überblicken des gesendeten Programms bei „Playblack Radio“ von einer Collage zu sprechen. Es wäre zu leicht.
Bei diesem Palimpsest aus sich überlagernden weißen Fantasien & Schwarzer Kulturgeschichte wird Schicht für Schicht abgetragen, was mit dem nächsten Jingle schon wieder drauf projiziert wird. Ideen von Originalität und Ursprung verschwimmen mit Fragen nach Authentifizierung und Identifizierung, heitere Dudelfunk-Ästhetik und metakommunikativer Kommentar drehen die Boxen auf. Besonders gelungen ist der Einsatz klassischer Tontechniken bzw. Stimmeinsätze.

So wird beispielsweise das Voice-Over der äußerst bemühten Journalistin Stefanie, die nach Straßenumfrage und Googlesuche, beim (oder eher: im) Gespräch mit ihrer ‚eigenen Schwarzen Freundin‘ Isabel zum Sinnbild bzw. Sinnton für die Machtdynamiken, die es weißen Vorstellungen, sprich Fantasien aus Jahrhunderten der Rassifizierung & Exotisierung, von Schwarzen Lebensrealitäten erlauben diese Lebensrealitäten tatsächlich und sehr real zu beeinflussen, beschneiden, zu Besitz zu erklären.
Nach einer Schalte ins Musikstudio und ins Jahr 1994 zu GI Eric und einem westdeutschen Musikproduzenten, erinnert Samuel L. Ja- erinnert Engelbert von Nordhausen mich daran, warum die britische Musikerin FKA Twigs Recht hatte damit, die wiederholte Einordnung ihres genre-bedingt, extrem speziellen Sounds als ‚Alternative R’n’B‘ einen schlampigen Journalismus zu nennen.

Ich erinnere mich daran, dass ein Voice-Over die Aufnahme einer Stimme bedeutet, die eigentlich nicht Teil des Narrativs war, sie durch Über-Stimmen aber dazu werden lässt.

Ich höre Stefanies Stimme vom Beginn sagen: ‚Oder sind vielleicht denkfaule Journalist: innen das Problem?
Ich glaube doch kaum, da gerade bei uns in Deutschland Journalist: innen eine so unentbehrliche Arbeit leisten.‘
Wieder höre ich Stefanies Stimme, diesmal in meinem Kopf. In meiner Vorstellung spricht sie von sich als Ally.

In meiner Vorstellung hörte ich auch: Jada Pinkett-Smith, Rosario Dawson und Regina King in der Rolle von Claudia Urbschat-Mingues, hörte Samuel L. Jackson und Bill Cosby in überzeugender Doppelbesetzung als Engelbert von Nordhausen und hörte Chadwick Boseman als Tobias Schmitz. Für einen Moment vergesse ich, dass Black Panther 2 eine neue Heldin hervorbrachte, weil Boseman noch vor Drehbeginn 2020 verstarb.

Mit ihrem unterhaltsamen, aber nie nur bloße Unterhaltung seienden, Trialog aus anekdotischer Evidenz, gekonnter Stimmarbeit und kritischer Selbstbefragung, aber auch -entlarvung, fahre ich durch das Uncanny Valley aus vertrauten Stimmen und, denn auch ich bin der journalistischen Methode der Googlesuche mächtig, ihren ganz fernen, aber dazugehörigen Gesichtern.

Es wäre ein Leichtes, dieses Hörspiel als Collage zu bezeichnen. Zu sagen: ein besonderes mixed-show Format, ein abwechslungsreiches Durcheinander, eine Verkettung von Zufällen, die Aneinanderreihung von Einzelfällen, aber so wichtig, wichtig, dass diese Stimmen – welche Stimmen? – gehört werden.
Zu leicht, wo es doch vor allem das Aufzeigen von Kontinuitäten ist, die „Playblack Radio“ am Ende zu einer so merk-würdigen, heißt schwer vergessbaren, Klangperformance macht.

Zugegeben, rückblickend hatte die Eingangsbeobachtung vielleicht auch mit einer altersbedingten Veränderung in meinem Medienkonsum zu tun. Weniger FSK 0, weniger Animationsfilm, weniger Zielgruppe ‚Kinder + ggf. tapfere Eltern‘, mehr critically acclaimed drama series, mehr [OV] & [OmU], mehr Filme, die auch nach 15.30 Uhr im Kino gezeigt werden.
Ich für meinen Teil frage mich zum baldigen Kinostart eines Live-Action-Remakes des Disney-Klassikers Ariel, die Meerjungfrau (1989), Arielle (Continuity?!), die Meerjungfrau bereits jetzt, ob und wenn ja, wie Zeichentrick-weiß oder White Fantasy-schwarz die deutsche Synchronstimme der Hauptdarstellerin Halle Bailey ausfallen wird.
Die Geschichte der kleinen Meerjungfrau ist nicht zuletzt auch eine Geschichte von Aneignung, Verlust und (Wieder-)Finden der eigenen Stimme.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent

Gastgebender Sender: WDR

Das Hörspiel des Monats März 2023 

Pimp your life - per Knopf im Ohr zum Besten aller Leben
von Tina Klopp

  • Regie/ Realisation: Tina Klopp

  • Mit: Tina Klopp, Anna Panknin
    Im O-Ton: Stephanie Weber, Hans-Georg Lauer, Jörg Wittenberg, Sven Bumenrath, Susanne Kreikebaum u.a.

  • Komposition: Kiki Bohemia & Sicker Man

  • Ton/Technik: Olaf Dettinger und Wolfgang Rixius

  • Projektleitung: Katarina Agathos

  • Produktion: BR 2023

  • ESD: 10.03.2023, 17.03.2023, 24.03.2023

  • Länge: Teil 1: 29‘40 / Teil 2: 27‘20 / Teil 3: 23‘36 / Teil 4: 24‘15 / Teil 5: 30‘07 / Teil 6: 31‘28


    Gefördert von der Film und Medienstiftung NRW

Tino Klopp aka Tina Klopp
© Tina Klopp

Pimp your life - per Knopf im Ohr zum Besten aller Leben Hörprobe

/

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR

Begründung der Jury

Bei der sechsteiligen „Doku-Fiction“ überzeugte die...

Bei der sechsteiligen „Doku-Fiction“ überzeugte die Reise der Protagonistin Tina Klopp durch die unterschiedlichsten Lebensbereiche mit Hilfe unterschiedlicher Coaches. Sie hält den Zuhörenden immer wieder den Spiegel des eigenen Handelns vor. Dabei verblüfft immer wieder, wie berechen-bar wir als Individuen sind und wie sehr man, mit gezielter Manipulation anderer, seine eigenen (individuellen) Ziele durchsetzen kann. Während man Folge für Folge dem Weg der Hauptprotagonistin Tina Klopp folgt, bietet das Hörspiel viel Raum und Projektionsfläche, das eigene Handeln, aber auch das eigene Umfeld, in Frage zu stellen. Geschickte Anwendungen von Rhetorik geben sich die Klinke in die Hand. Während mancher schwer auszuhaltenden Konversationen, die auch für die Protagonisten unangenehm zu sein scheinen, bleibt ein Lerneffekt beim aufmerksamen Zuhören nicht aus.

Eine lobende Erwähnung spricht die Jury aus für das Hörspiel „Lost Generation!? Ein Fiebertraum“ von Carina Pesch und vier Hungerstreikenden aus der Reihe „2035“, Produktion MDR. Vier Protagonist*innen, Beteiligte des Hungerstreiks für Klimagerechtigkeit, erzählen von einer Grenzerfahrung, deren erhoffter Effekt ausgeblieben ist. In kritischer Fabulation, zwischen Traumlandschaft und Politikerzitat, erkundet das Hörspiel die Frage ‚Was hätten wir tun müssen?‘ und regt auf herausragende Weise immer wieder zum Nachdenken über politische Gestaltungsmöglichkeiten und die Grenzen der Partizipation an.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent

Gastgebender Sender: WDR

Das Hörspiel des Monats Februar 2023 

Liberté
von Maja Das Gupta

  • Regie: Alexandra Distler / Regieassistenz: Jakob Roth

  • Mit: Viola von der Burg, Marie Jensen, Steffen Link, Stefan Merki, Anselm Müllerschön, Thomas Hauser, Katja Amberger, Lukas Rüppel, Irina Wanka, Paula Lochte, Alexandra Martini, Florian Schairer, Ingrid Schölderle, Julia Fischer, Gabi Hinterstoisser

  • Ton/Technik: Gerhard Wicho/Robin Auld

  • Dramaturgie: Katja Huber

  • Produktion: BR 2023

  • ESD: 25.02.2023

  • Länge: 57’56'‘

Viola von der Burg während der Aufnahme
Foto Jakob Roth

Liberté Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Begründung der Jury 

Mit “Liberté” liefert Maja Das Gupta und der BR eine einzigartige Spionage-geschichte, die zunächst mit historischem Tiefgang und Ambiente glänzt. Das einfühlsame, mitreißende Porträt der indischen Prinzessin sowie britischen Geheimagentin und Künstlerin Noor Inayat Khan, die im Jahre 1944 im KZ Dachau ermordet wurde, bietet einen seltenen Zugang.
Trotz der Kürze wird Das Gupta der historischen Tiefe und der Notwendigkeit, es zu erzählen, gerecht. Die NS-Zeit als Thriller und mit Fokus auf die Außenperspektive hat die Jury überzeugt.
Die Spannung, die sich stilistisch wie inhaltlich durch das gesamte Hörspiel zieht, überzeugte die Jury einstimmig. Die in sich kurze geschaffene Erzählung, die nahezu nach einer langen Version sehnen lässt, glänzt vor allem durch eine sehr stimmige Besetzung der Sprecher.
Besonders beeindruckend ist der Schluss, der den Thriller so nachdrücklich abschließt, dass der Zuhörende weitergehend mit der historischen Tangente beschäftigt sein wird.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent

Gastgebender Sender: WDR

Marie Jensen während der Aufnahme
Foto Jakob Roth

Das Hörspiel des Monats Januar 2023 

Wes Alltag Antwort gäb
von Gesche Piening

  • Regie: Gesche Piening / Regieassistenz: Stefanie Ramb

  • Mit: Stephan Bissmeier und Sylvana Krappatsch

  • Komposition und Klavier: Michael Emanuel Bauer

  • Laptop-Gitarre und Programmierung: Gunnar Geisse

  • Dramaturgie: Katja Huber

  • Ton/Technik: Michael Krogmann, Fabian Zweck und Robin Auld

  • Produktion: BR mit DLF Kultur 2023

  • ESD: 27.01.2023

  • Länge: 54’07'‘

Wes Alltag Antwort gäb Hörprobe

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Stephan Bissmeier während der Aufnahme
Foto Stefanie Ramb

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Begründung der Jury 

“Wes Alltag Antwort gäb” bietet als...

“Wes Alltag Antwort gäb” bietet als Sendung Zugang zu einem monologischen Gesellschaftsporträt, das eindrücklich und aufwühlend seine Zuhörer bannt. Sie bespricht die Anforderung an das Ich, das im besten Falle stets glänzend und aktiv sein sollte.
Der bekannte Drang, sich selbst zu inszenieren und die eigene Geschichte anzupassen, wird von dem nicht unbedingt präsenten Ich des Hörspiels getragen. Fast beklemmend drängt es den Hörenden selbst zu reflektieren und erinnert an den kritischen Blick, den die Gesellschaft auf einen hat, zu denken und das eigene Leben zu hinterfragen.

Unbehaglich und erschreckend zugänglich, trotz hoch akademisierter Sprache sticht “Wes Alltag Antwort gäb” im Januar für die Jury heraus.
Zwei Stellen stechen besonders hervor, die man sich eigentlich markieren und verwahren mag:

Ich möchte als Person vorstellbar sein. Vielleicht nicht nachvollziehbar in jedem Punkt, das ist nicht wichtig. Aber vorstellbar. Ich möchte so sein, dass man sich die Mühe macht, sich mich vorzustellen. Am liebsten detailreich natürlich. Es wäre schön, wenn das Interesse lange hielte, bis in die feinsten Verästelungen führte.”

“Was möchte ich?! Ich möchte mein Gegenüber verstehen, um einen Vorteil daraus zu ziehen. Wenn ich den Vorteil nicht sehe, breche ich die Kommunikation ab. Manchmal abrupt. Das findet nicht jeder toll, ist auch nicht höflich. Ich höre oft, ich wirke aggressiv und das nervt mich ehrlich gesagt. Aber das ist bloße Formkritik. Das ist keine fachliche Kategorie, die mich vorwärts bringt – somit ist sie vernachlässigbar. Da sind auch viele Empfindlichkeiten dabei. Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Die Zeit habe ich nicht.“

Besonders lobend hervorzuheben sind die musikalischen Untermalungen, die oft im Crescendo enden und den Hörer unabdingbar ans Weiterhören binden.
Der lethargische Unterton des Sprechers lässt die reinen Worte in den Vordergrund rücken.

Die Jury und der gastgebende Sender 2023

Yasmine M'Barek, Autorin, Journalistin und Podcasterin
Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist, Lyrikerin und Moderatorin
Horst Wegener, Rapper, Songwriter und Filmproduzent

Gastgebender Sender: WDR

Sylvana Krappatsch während der Aufnahme
Foto Stefanie Ramb

Das Hörspiel des Monats Dezember 2022 

Ein Käfer, der Erinnerungen frisst
von Sofie Neu  und Fabian Raith

  • Regie: Sofie Neu  und Fabian Raith

  • Mit: Bineta Hansen, Charlie Triebel, Markus Hoffmann, Yoshii Riesen, Tina Pfurr, Petra Hartung, Robert Frank, Milena Schedle, Julian Jäckel, Katharina Hoffmann, Konstantin Frank, Matti Krause, Yara Blümel, Christine Jensen

  • Komposition: Martin Recker

  • Dramaturgie: Julia Gabel und Johann Mittmann

  • Ton/Technik: Hermann Leppich und Sonja Maronde

  • Produktion: DLF Kultur

  • ESD: 08.12.2022

  • Länge: 54’53'‘ / 61‘03'‘ Online

Copyright: rbb/Bild erstellt durch Midjourney, unter CC-BY NC 4.0

zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF 

Begründung der Jury 

Erinnerungen, verloren gegangene Erinnerungen, sich überlagernde Erinnerungen, absichtlich verwischte Spuren, vermeintlich auf ewig konservierte Erinnerungen

 Es ist das Jahr 2035: Mika,...

 

Es ist das Jahr 2035: Mika, die zentrale Figur des Hörspiels „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ von Sofie Neu und Fabian Raith, begibt sich mithilfe eines veralteten Elektronik-Tools – einem Tablet – auf einen dem Jahr 2022 zugeordneten Augmented-Reality-Walk mit dem Titel „Hinterlassen“ durch ihre Stadt. Darin heißt es unter anderem in Bezug auf Denkmäler im Stadtraum: „Öffentliche Erinnerungen blicken zurück und prägen unseren Blick in die Gegenwart durch das Schöpfen aus der Vergangenheit – wie eine künstliche Intelligenz, die aus vergangenen Mustern zukünftige entwirft."

In diesem Hörspiel geht es um Erinnerungen, um verloren gegangene Erinnerungen, um sich überlagernde Erinnerungen, um absichtlich verwischte Spuren, um vermeintlich auf ewig konservierte Erinnerungen von Nahestehenden, seien es Fotos, seien es Sprachnachrichten, seien es Texte. Vermeintlich ewig konservierbare Erinnerungen und Datensätze deswegen, weil eine neue Spezies, ein Käfer, der es auf Edelmetalle und seltene Erden abgesehen hat, sich durch Serverfarmen durchfrisst und somit zuvor auf Clouds gespeicherte Datensätze unbrauchbar macht bzw. gänzlich vernichtet. Die Idee ist ein kluger Schachzug der beiden Autor- und Regisseur.innen Sofie Neu und Fabian Raith: Trotz aller Technikgläubigkeit unserer Gegenwart und Heilsversprechen der Digitalisierung ist die Natur letztlich stärker.
Mika, von den Autor:innen als queere Person angelegt, hat die digitalen Erinnerungen ihrer verstorbenen Mutter durch das gefräßige Insekt verloren und kämpft nun mit dem Wiedererinnern von Episoden, die sie mit ihrer Mutter durchlebte. Mika versucht Szenen aus der Vergangenheit zu rekonstruieren, etwa den genauen Tonfall in der erinnerten Stimme der Mutter in Gedanken wieder herzustellen, wobei wir diese imaginären Erinnerungsversuche sowie alle Gedanken Mikas mithilfe der klassischen Hörspieltechnik des inneren Monologs erzählt bekommen.
Dabei stellt Mika fest, wie wenig verlässlich Erinnerungen sein können.  

Am Ende des Tablet-Walk stößt Mika schließlich auf einen langen O-Ton der Mutter: eine letzte Spur, die der Vernichtung durch den Käfer – noch! – nicht anheimgefallen ist.
Das Hörspiel „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ überzeugt auf unterschiedliche Weise. Zum einen durch den Einfallsreichtum der Autor:innen beim Blick aus der Zukunft zurück in die Jetztzeit. So imaginieren sie Elemente einer durchaus möglichen zukünftigen Realität: z.B. urbane Kühlzonen, die die städtischen Bewohner:innen vor zu großer Hitze schützen sollen. Mika trifft auf Plastikfetischist:innen, die im Pazifischen Ozean auf einer Insel ganz aus Plastik leben. Mika wird durch ein K.I.-Gadget, das ihre Wahrnehmung schärfen soll, vermeintlich personalisierte Werbung eingespielt, wodurch sie ihr tägliches Datenvolumen umsonst bekommt. Dies sind allesamt keine wirklich schönen Aussichten auf die nahe Zukunft, aber durchaus vorstellbare, so dass das Stück unserer Gegenwart im Jahr 2022 nicht gänzlich enthoben wirkt.
Klanglich überzeugt das Stück nicht nur durch den Einsatz der Kunstkopftechnik, sondern durch die detailreiche Gestaltung des wabernden Klangteppichs, der mal für die Gedankenbewegungen von Mika steht, mal die technisierten Fressgeräusche des Käfers eindringlich zu Gehör bringt. Der Einsatz des Kunstkopfes ist auch nicht zuletzt eine logische Konsequenz dessen, dass die Hauptperson sich mit dem AR-Walk durch die Stadt bewegt, womit einerseits die Ausprägung von Räumlichkeit ein Thema des Stückes ist und andererseits mit der klassischen Hörsituation der heutigen Podcast-Generation gespielt wird. Besonders hervorzuheben ist schließlich die überzeugende Weise, in der Bineta Hansen die queere Figur Mika spricht und ihr einen klaren Charakter gibt, der das Stück trägt.
Daher benennen wir „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ zum Hörspiel des Monats Dezember 2022.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022
Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Die Neuen für's Hörspiel 

Die neue Jury für das Hörspiel des Monats/Jahres 2023 ist berufen!

Das Team besteht aus Miedya Mahmod, Yasmine M’Barek und Horst Wegener.

Wir freuen uns sehr und sind gespannt auf die Entscheidungen des neuen Jahrgangs.
Der WDR ist 2023 der gastgebende Sender – wir danken für den Vorschlag zur Zusammensetzung der neuen Jury!

Miedya Mahmod

Miedya Mahmod, Jahrgang 1996, Spoken-Word-Artist, Mitbegründerin der Lesebühne Schall & Raucher*innen, moderiert das Talkformat „Deutschland. Schön. Reden.“ Sie interessiert sich für digitale & kollektive Autor*innenschaft, Politik & Poesie, ihre heutige (Ir)Relevanz und für Andere(s). (Foto Björn Storck)

Yasmine M'Barek

Yasmine M’Barek, Jahrgang 1999, Autorin bei ZEIT Online und taz. Journalistenschule in Köln und Studium der Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. 2019/20 Podcast Auf einen Polittee mit Yasmine M’Barek, aktuelle Buchveröffentlichung Radikale Kompromisse. 2020 vom "Medium Magazin" zu den "Top 30 bis 30"-Journalisten gewählt. (Foto Léon Haffmanns)

Horst Wegener

Horst Wegener, Jahrgang 1997, Rapper, Songwriter und Filmproduzent mit eigener Produk-tionsfirma Wupperwerft. 2019 für den POP:NRW Preis und den New Music Award von 1LIVE als bester Newcomer nominiert, Kurator des Festivals "Sound of the City" für die Oper Wuppertal. (Foto Arne Schramm)

Für die wunderbare Zusammenarbeit danken wir der diesjährigen Jury für Ihren Einsatz für das Hörspiel! Neo Hülcker, Ania Mauruschat und Vito Pinto unseren sehr herzlichen Dank.

Die Preisverleihung zum Hörspiel des Jahres 2022 wird am Freitag, den 3. März 2023, 19.30 Uhr im Kammermusiksaal Deutschlandfunk Köln stattfinden.
Detaillierte Informationen folgen.

Das Hörspiel des Monats November 2022 

Faust (hab' ich nie gelesen)

Autofiktionales Hörspiel von Noam Brusilovsky

  • Regie: Noam Brusilovsky

  • Regieassistenz: Martin Buntz und Philippe Mainz

  • Mit: Itay Tiran, Bibiana Beglau, Walter Kreye, Anika Mauer, Almut Henke und Noam Brusilovsky

  • Musik: Tobias Purfürst

  • Dramaturgie/Redaktion: Andrea Oetzmann

  • Ton/Technik: Christian Eickhoff, Tanja Hiesch, Nikolaus Löwe und Venke Decke

  • Produktion: SWR mit dem DLF

  • ESD: 27.11.2022

  • Länge: 74’37'

v. l. n. r. Bibiana Beglau, Itay Tiran, Walter Kreye und Noam Brusilovsky
Foto SWR / Patricia Neligan

Faust (hab' ich nie gelesen) Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek des SWR 

Das Hörspiel des Monats Oktober 2022 

Welcher Art die Wärme ist

von Carmine Andreotti, Paola De Martin und Melinda Nadj Abonji

  • Konzept, Bearbeitung & Regie: Erik Altorfer

  • Regieassistenz: Stefanie Ramb

  • Mit: Katja Bürkle, Olivia Grigolli, André Jung, Carsten Fabian

  • Komposition: Martin Schütz

  • Redaktion: Katja Huber

  • Ton/Technik: Michael Krogman, Adele Kurdziel

  • Produktion: BR/SRF

  • ESD: 28.10.2022

  • Länge: 69‘05‘‘

Die Schauspielerin Olivia Grigolli bei der Aufnahme
Foto Stefanie Ramb

Welcher Art die Wärme ist Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Foto Laurent Gillieron

Begründung der Jury 

Hörspiel-Collage um Geschichten und Einzelschicksale rund um die europäische Arbeitsmigration nach dem 2. Weltkrieg in Form diverser Anwerbeabkommen für sogenannte „Gastarbeiter“ oder „Saisonniere“.

Das Hörspiel „Welcher Art die Wärme...

Das Hörspiel „Welcher Art die Wärme ist“ beschäftigt sich mit einem bisher kaum beachteten Aspekt der jüngeren – Schweizer – Geschichte. In der dokumentarischen Hörspiel-Collage geht es um Geschichten und Einzelschicksale rund um die europäische Arbeitsmigration, die nach dem 2. Weltkrieg in Form diverser Anwerbeabkommen für sogenannte „Gastarbeiter“ oder „Saisonniere“ einsetzte. Jene darin verhandelten Episoden könnten in ähnlicher Weise auch über die Migration seit den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland erzählt werden.

Das Stück nimmt in Form thematisch getrennter und geschickt ineinander verflochtener Schilderungen die Perspektive dreier Autor:innen ein, die der zweiten Migrationsgeneration in der Schweiz angehören. Vor allem in den Erzählungen und den mehrfach eingestreuten Briefen der Schweizer Fremdenpolizei kommt u.a. die Brutalität der Prosa zu Tage, mit der junge Arbeitsmigrant:innen konfrontiert waren, die bspw. in der Schweiz Kinder bekamen. Jene Kinder galten mit dem Tag ihrer Geburt als Illegale. Eine weibliche Person italienischer Herkunft erzählt:

„Ich bin am gleichen Tag geboren, wie ich ausgewiesen wurde, dorthin, wohin ich laut Behörden ‚hin-gehöre‘. Meine Eltern horchten auf und ‚gehorchten‘ sie verstanden und konnten doch nicht nachvollziehen, was genau sie verstanden hatten. Sie waren gefangen und gespalten. […] Ich war neun Monate alt, meine Mutter hatte mich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, mit drei Monaten abgestillt und dann ab nach Zürich, erzwungenermaßen, das Gesetz verbot uns in der Schweiz zusammen zu leben. Die Eltern, meine Eltern, brachen dann das Gesetz wenige Jahre später, weil unsere Trennung nicht auszuhalten war. In der Zwischenzeit war ich ‚dort unten‘ und sie ‚hier oben‘.“

Das von 1931 bis 2008 geltende Schweizer „Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer“ sollte Arbeitsmigrant:innen daran hindern, sesshaft zu werden. Die Arbeitsverträge und Visa galten für drei Monate bis zu einem Jahr. Ein Familiennachzug war seinerzeit nur bedingt möglich, somit konnten in der Schweiz geborene Kinder keinen Aufenthaltstitel erhalten. Ab 1965 konnten Personen, die fünf Mal hintereinander sogenannte „Jahresaufenthalter“ waren, ihre Familie zusammenführen. Die bis dahin stattgefundenen Trennungen von Eltern und Kindern hatten über die Jahrzehnte hinweg Traumata zur Folge, über die bislang wenig gesprochen und berichtet wurde.

Das vorliegende Hörstück schließt in Teilen diese Lücke und zeichnet in sehr eindrucksvoller Manier vor allem mittels der literarischen Erinnerungsbilder jene grausamen Trennungsgeschichten nach. So wird ein Mädchen über Nacht vom Vater nach Ungarn zu den Großeltern gebracht und mit dem Satz „Ich komme wieder – sei brav“ zurückgelassen. In einer weiteren Episode wird der wesentlich ältere Bruder eines in der Schweiz ansässigen Kindes, der später aus Italien über den nun möglichen Nachzug in die Schweiz geholt wird, in der Familie quasi wie ein Fremder aufgenommen und konnte so nie wirklich in der Schweiz ankommen.

Die textuelle Bearbeitung der Episoden sowie die Inszenierung des Stücks machen in vielerlei Hinsicht äußerst eindrucksvoll die von Max Frisch herbeizitierte Kälte deutlich, mit der die aufnehmende Mehrheitsgesellschaft die sogenannten „Gastarbeiter“ empfing. Die hier realisierten Episoden stehen exemplarisch für jene durch die strukturelle staatliche Gewalt provozierten Erlebnisse: Für tausende jener Migrant:innen wurden sie zu einer traumatisierenden Realität. Hinzu kommt die beginnende Auseinandersetzung der zweiten Generation mit deren Eltern, die jahrzehntelang sprachlos waren und in vielen Fällen nicht über jene Zeit der Entbehrungen sprechen konnten. Viele Personen der zweiten Generation bekommen keine Antworten auf ihre Fragen: ihre Eltern verdrängten negative Erinnerungen oder starben frühzeitig. Das Stück widmet sich in beeindruckender Art und Weise jener im Zuge der äußerst relevanten Beschäftigung mit der eigenen jüngeren Geschichte bisher nahezu sprachlos gebliebenen Bevölkerungsgruppen. Die dramaturgisch geschickten Verflechtungen der einzelnen Geschichten mit der schonungslosen Prosa der Fremdenpolizei sowie die chorisch angeordnete Auseinandersetzung mit euphemistisch-zynischen Begriffen wie etwa „Gastarbeiter“ gleich zu Beginn des Stücks stehen beispielhaft für die überzeugende Bearbeitung und Regieleistung von Erik Altorfer. Die stets unter die sprachlichen Schilderungen als kommentierender Klangteppich gesetzte Musik (Komposition: Martin Schütz) verzahnt sich ebenso geschickt und gänzlich unpathetisch mit den sprachlich-stimmlichen Elementen.

Daher küren wir „Welcher Art die Wärme ist“ zum Hörspiel des Monats Oktober.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022
Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung geht an „Stadt in Angst" (SWR) von Albrecht Kunze. Das aus einer beobachtenden „Camera-Eye-Perspektive“ angeordnete postdramatische Hörspiel für die musikalische Umsetzung der Sprache und Stimmen sowie für die unmittelbare akustische Realisation der stets anwesenden, aber nur kaum greifbaren Bedrohlichkeit, die dem Stück immanent ist.

Eine weitere lobende Erwähnung spricht die Jury dem fünfteiligen Hörspiel „Die Experten“ (DLF Kultur / NDR) nach Merle Krögers gleichnamigem doku-fiktionalem Roman aus für die jeweils überzeugende Bearbeitung des Stoffs durch Katrin Zipse und die Regieleistung von Judith Lorentz.

Das Hörspiel des Monats September 2022 

Alles Licht, das wir nicht sehen

von Anthony Doerr

  • Bearbeitung: Karlheinz Koinegg

  • Regie: Petra Feldhoff, Regieassistenz: Josephine Güntner

  • Komposition: Ulrike Haage

  • Dramaturgie: Ulla Illerhaus

  • Ton/Technik: Werner Jäger, Mechthild Austermann

  • Mit: Alicia von Rittberg, Frieda Reinke, Leni Kramer, Markus J. Bachmann, Julius Langner, Gustav Saurbier, Noureddine Chamari, Charlotte Schwab, Steve Karier u.v.a.

  • Produktion: WDR

  • ESD: 17.09.-1.10.2022

  • Länge:
    Folge 1, Die Lichter der Vernunft, 46‘46‘‘
    Folge 2, Augen zu im Dunklen, 50‘19‘‘
    Folge 3, Au claire de la lune, 52‘53‘‘

Alles Licht, das wir nicht sehen Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek des WDR 

Begründung der Jury 

Die Jury kürt „Alles Licht, das wir nicht sehen“ nach dem gleichnamigen Roman von Anthony Doerr als besonders gelungene Literaturadaption zum Hörspiel des Monats September 2022. Die szenische und atmosphärische Textvorlage wurde kongenial von der Regisseurin Petra Feldhoff umgesetzt. Unter ihrer Anleitung überzeugen auch die schauspielerischen Leistungen insbesondere der Darstellung der Protagonistin Marie-Laure durch Alicia von Rittberg, Frieda Reinke und Leni Kramer sowie des Protagonisten Werner Hauser durch Marcus J. Bachmann, Julius Langner und Gustav Saurbier in den unterschiedlichen Altersstufen vom Kind bis zum Jugendlichen und zur Erwachsenen sowie des Nebendarstellers Bernhard Schütz als Reinhold von Rumpel. Dramaturgie, Inszenierung und schauspielerische Leistung erzeugen einen solchen Sog, dass man alle drei Teile am Stück hören möchte.

Besonders berührend ist, dass der Zweite Weltkrieg aus der ungewöhnlichen Perspektive eines französischen, blinden Mädchens und eines deutschen, technikbegeisterten Jungen erzählt wird, die unaufhaltsam in den Wirren der Ereignisse aufeinander zutreiben. Die Gefahr der Sentimentalität wird dabei durch die tragende Rolle des Radios als dritter Protagonistin gebannt. Es wird in all seinen Facetten gezeigt und treibt die Handlung voran:  Als Medium zur Überwindung von Grenzen und Entfernungen, als vermittelndes Element von Bildung, Kunst und Kultur, sowie als politische Propagandamaschine, die zur Gleichschaltung benutzt wird, als Waffe des Widerstandes und als lebensgefährliches Instrument zur Ortung von dem Partisan:innen.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022

Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Lobende Erwähnungen 

Marcus Orths: „Picknick im Dunkeln“ (hr)

Die Hörspieladaption von Marcus Orths‘ Roman „Picknick im Dunkeln“ erhält als ebenfalls sehr gelungenes Stück eine lobende Erwähnung: Nicht nur ist der Roman höchst originell und einfallsreich konzipiert, dessen Setting im Dunkeln ideal für ein Hörspielspiel geeignet ist. Die an das absurde Theater von Samuel Beckett erinnernde Handlung ist außerdem überzeugend von Alexander Schumacher inszeniert und Jean-Pierre Cornu als Stan Laurel und Samuel Weiss als Thomas Aquin glänzen in ihren Rollen – selbst in der Dunkelheit dieses Hörspiels.  

Michel Friedman: „Fremd“ (DLF)

Eine weitere lobende Erwähnung erhält „Fremd“ von Michel Friedman. Bei dieser Hörspieladaption überzeugt sowohl der berührende, lyrische Text über die Fremdheitserfahrung eines Juden, der im Nachkriegsdeutschland im Schatten des Holocaust und der Traumata seiner Familie aufwächst, als auch die kluge Bearbeitung und Inszenierung von Text und klanglichen Atmosphären durch Max Lindemann sowie die schauspielerische Leistung von Constanze Becker als Sprecherin. Durch das Zusammenspiel von Text, Bearbeitung, Inszenierung und Sprecherin wird das Stück denn auch über die biografischen Elemente des Autors Michel Friedman hinausgehoben und erhält eine universelle Bedeutung als berührende Beschreibung der Erfahrung fremd und ausgeschlossen zu sein.

Das Hörspiel des Monats August 2022 

Die Polizey

von Björn SC Deigner

  • Regie: Luise Voigt

  • Regieassistenz: Susann Schütz

  • Komposition: Friederike Bernhardt

  • Dramaturgie: Barbara Gerland

  • Ton/Technik: Jean Szymczak

  • Mit: Ole Lagerpusch, Wolfgang Pregler, Swetlana Schönfeld, Bettina Köster, Catherine Stoyan, Manuel Harder, Patrick Güldenberg, Rajko Geith, Petra Hartung, Tina Pfurr, Hansa Czypionka, Charlie Triebel, Franz Röbig, Meike Rötzer, Peter Schneider, Peter Jordan, Wolfgang Michael, Andreas Döhler, Lilith Stangenberg, Matthias Bundschuh

  • Produktion: DLF Kultur

  • ESD: 17.08.2022

  • Länge: 56‘46‘‘

Der Autor Björn SC Deigner
Foto Niklas Vogt

Die Polizey Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF Kultur 

Begründung der Jury 

"Dies ist ein Ritt durch die dunkle Nacht der Institution Polizei."

Friedrich Schillers kurz vor seinem Tod...

Friedrich Schillers kurz vor seinem Tod um 1800 entstandenes, gleichnamiges Fragment bildet den Ausgangspunkt für Björn SC Deigners Text „Die Polizey“, den Luise Voigt als Hörspiel bearbeitet und inszeniert hat. Verse von Schiller werden umspielt mit Deigners eigenen Worten und erschaffen eine beschwörende poetische Beschreibung der Nacht im Paris des beginnenden 19. Jahrhunderts:
„Paris ist ein Schlund, in dem die Menschheit verschmilzt, die Häuser so hoch,dass die Bewohner tagsüber Kerzen anzünden“.

Aus jener Atmosphäre des Unheimlichen werden uns die Anfänge der Institution Polizei vorgestellt, so wie sie sich in den Worten Deigners in ihrer heutigen Struktur darstellt:

„[…] die Nacht ist der Polizei ihr eigentliches Zuhause
wenn der Mensch sich der Freude hingibt
auf dem Rummel oder auf Volksfesten
beginnt ihr eigentliches Geschäft
wo der eine seine Seele baumeln lässt
nimmt der andere den Knüppel in die Hand
und wer schläft verliert den Vorsprung
den er sich bei Tage erworben hat […]“

Daraufhin lernen wir den Dieb und Mörder Vidocq kennen, dessen kriminelle Karriere kaum etwas ausließ und der schließlich zum Spitzel und Chef der ersten Art Kriminalpolizei in Paris, der Sûreté, ernannt wird. Deutlich werden hier die eigenen Verstrickungen der Polizei mit dem, was sie eigentlich bekämpft. So heißt es bei Schiller:

„Die Polizey muss oft das Ueble zulaßen, ja begünstigen und zuweilen ausüben, um das Gute zu thun oder das größre Uebel zu entfernen“.

In verschiedenen weiteren Szenen gelingt es sowohl Deigner in seinem Text als auch Luise Voigt in ihrer unaufdringlichen, wenig pathetischen Inszenierung, die verschiedenen Facetten der Institution Polizei über die letzten Jahrhunderte hinweg im Rekurs auf das Schiller’sche Fragment darzulegen und zu verschränken: die Polizei als Hüterin der Ordnung, als brutaler Apparat des Staates, als von Spitzeln durchdrungene Vereinigung, als eine von Rechtsradikalen in Teilen unterwanderte Institution, die ihre Verbindungen zum NSU leugnet.

Eine Sequenz gegen Ende des Hörspiels sticht besonders hervor, in der die bis dato fiktionalisierte Realität selbst in brutaler Weise als O-Ton in Erscheinung tritt: Anrufer*innen sind zu hören, die der Feuerwehr verzweifelt mitteilen, dass ein Asylbewerber*innenheim
in Rostock-Lichtenhagen (August 1992) brennt und die Polizei nichts dagegen zu tun scheint. Der überforderte Feuerwehrmann, wiegelt am Telefon ab mit den Worten, dass die Polizei (noch) nicht vor Ort ist, und dass die Kolleg*innen selbst „nicht rankommen“.

Luise Voigt hat auf Basis von Björn SC Deigners Text ein Hörspiel kreiert, das mit historischen und aktuellen Quellen ein kritisches Porträt der Polizeiarbeit zeichnet. Das Stück beeindruckt in seiner Sprachgewalt und aufgrund der radiophon sehr eindrücklichen Umsetzung.
Besonders lobend hervorzuheben sind denn auch die Sprechregie und das Sprecher*innen-Ensemble.
Wir zeichnen „Die Polizey“ daher als Hörspiel des Monats August aus.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022

Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

© EyeEm / jose maria hernandez

Das Hörspiel des Monats Juli 2022 

Campo

von Laura Uribe

  • Regie: Friederike Wigger

  • Regie-Assistenz: Stefanie Heim

  • Musik: Achim Zepezauer

  • Dramaturgie: Barbara Gerland

  • Mit: Marina Galic, Jule Böwe, Nuri Singer, Jenny Schily, Lisa Hrdina, Stefanie Eidt, Lena Stolze, Marina Frenk, Anastasia Gubareva, Manuel Harder, Abak Safaei-Rad

  • Produktion: DLF Kultur

  • ESD: 27.07.2022

  • Länge: 71‘52‘‘

Campo Hörprobe

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Frauen, die Angehörige verloren haben, machen sich mit Schaufeln auf die Suche nach den Knochen ihrer Liebsten.
© EyeEm / Thomas Woollard

zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF Kultur 

Friederike Wigger und Jule Böwe während der Aufnahme
© Deutschlandfunk Kultur Stefanie Heim

Gespräche aus der Hörspielwerkstatt #07 

Die Kulturbloggerin Lena Kettner im Gespräch mit der Regisseurin Friederike Wiggger über die Arbeit am Hörspiel "Campo" von Laura Uribe (Hörspiel des Monats Juli 2022).

Begründung der Jury 

„Ich werde dich suchen, bis ich dich gefunden habe.“

So lautet das Motto einer Gruppe...

So lautet das Motto einer Gruppe von mexikanischen Spurensucherinnen, den sogenannten „Rastreadores“, die mit einfachsten Mitteln nach ihren vermissten, entführten, ermordeten und schließlich verscharrten Angehörigen suchen. Weit mehr als 70.000 Menschen sind in Mexiko bisher Opfer von menschenverachtender Kriminalität geworden – vor allem durch die Mitglieder konkurrierender Drogenkartelle. Die zumeist weiblichen Hinterbliebenen kämpfen darum, ihre Angehörigen bzw. deren sterbliche Überreste wiederzufinden, werden dabei jedoch von einerseits überforderten, andererseits korrupten, in vielen Fällen jedoch untätigen Ermittlungsbehörden nicht ernsthaft bzw. gar nicht unterstützt.

Das dokumentarische Hörspiel „Campo“ (dt. Feld) der mexikanischen Performance-Künstlerin, Journalistin, Autorin und Regisseurin Laura Uribe (Übersetzung aus dem mexikanischen Spanisch: Franziska Muche) berichtet in sachlicher, aber niemals distanzierter Art und Weise sowie stellvertretend für die vielen erschütternden Einzelschicksale vom Kampf jener Frauen auf der Suche nach ihren Angehörigen.

Dem von Friederike Wigger inszenierten Hörspiel „Campo“ gelingt es in herausragender Weise, trotz aller Konkretheit, Drastik und Grausamkeit der Schilderungen, die Balance zu halten zwischen allzu großem Pathos und allzu lauter Anklage: eine Gefahr, die bei einer solchen Thematik gerade auch deswegen besteht, da sich die Autorin auf Originalmaterial, auf Augenzeugenberichte sowie auf eine eigene filmische Recherche bei einer der zahlreichen sogenannten „Suchbrigaden“ stützt.

Bemerkenswert ist im Stück darüber hinaus, dass Laura Uribe mehrfach ihre eigene Position reflektiert, etwa: „Ich habe mich gefragt, wie ich es verdammt nochmal hinkriegen sollte, dass deutsche Schauspieler diese Texte sprechen? Sie haben doch keinen Schimmer, was es heißt, nach Leichen zu suchen. […] Und ich denke, wer hat hier das Recht, wen zu spielen? Was gibt einem das Recht, über etwas zu sprechen?“ Oder an anderer Stelle: „Ich gehe als Dokumentaristin zur Brigade, und als solidarische Helferin […] Im Grunde wusste ich nicht so recht, warum ich hinging. Für einen Text nach Leichen zu suchen, fand ich seltsam. Ich verurteilte es nicht. Es war nur seltsam.“ Es ist zum einen möglicherweise die besondere Schwere jener Verbrechen, die nicht verschwiegen werden darf, sowie zum anderen die Beharrlichkeit der Protagonistinnen in ihrem verzweifelten Kampf, ihren Angehörigen ein letztlich würdevolles Begräbnis zu ermöglichen und sich von ihnen verabschieden zu können. Gründe genug jedenfalls, die dafür sprechen, jene auf Tatsachen beruhenden Geschichten zu erzählen.

Die vom überzeugenden Schauspielensemble eingesprochenen Texte und re-inszenierten O-Töne halten ebenso wie der Text und das Stück insgesamt die Balance zwischen einfühlsamer und eindringlicher Nähe und nüchtern-kühl in Szene gesetzter Distanz zu den Protagonistinnen.

Das Dokumentar-Hörspiel „Campo“ von Laura Uribe beeindruckt in ganzer Linie und wird daher zum Hörspiel des Monats Juli gekürt.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022

Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Marina Galic und Abak Safaei-Rad während der Produktion
© Deutschlandfunk Kultur Stefanie Heim

Das Hörspiel des Monats Juni 2022

PISTEN

von Penda Diouf

  • Bearbeitung und Regie: Christine Nagel

  • Musik: Niko Meinhold

  • Dramaturgie: Michael Becker

  • Mit: Abak Safaei-Rad

  • Gesang: MFA Kera, Naima Schmitt und Diane Davenport sowie Kinder der Märkischen Grundschule Berlin-Reinickendorf

  • Produktion: NDR

  • ESD: 15.06.2022

  • Länge: 79'59‘‘

Pisten Hörprobe

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Abak Safaei-Rad bei der Aufnahme
Foto NDR/Christine Nagel

zum Hörspiel, zur Audiothek des NDR 

Gespräche aus der Hörspielwerkstatt #06 

Die Kulturbloggerin Lena Kettner im Gespräch mit der Schauspielerin Abak Safaei-Rad über die Arbeit am Hörspiel "Pisten" von Penda Diouf (Hörspiel des Monats Juni 2022).

Begründung der Jury 

Von tiefen, anhaltenden Wunden, die Kolonialismus und Rassismus geschlagen haben. Penda Diouf holt sie aus dem Verdrängten, Verschwiegenen, Vergessenen in unser Bewusstsein - sie tut das auf poetische und einfühlsame Weise.

In ihrem Stück Pisten spricht Penda...

In ihrem Stück Pisten spricht Penda Diouf von tiefsitzenden, körperlichen wie seelischen Wunden, die nur schwer bis gar nicht verheilen, u.a. weil von ihnen noch immer zu wenig gesprochen wird. In diesem autobiographischen Theatermonolog verwebt die französisch-senegalesisch-ivorische Autorin und Schauspielerin ihre eigene Geschichte als 1981 in Dijon geborene Tochter afrikanischer Eltern und die Geschichte ihrer Familie mit der Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus und Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen und dem Widerstand dagegen.

Im Zentrum des Hörspiels steht eine Reise, die Diouf 2010 nach Namibia unternahm, um auf den Spuren ihres Idols, des namibischen Leichtathleten Frank „Frankie“ Fredericks, zu wandeln, der die ersten olympischen Medaillen für seine Heimat gewann. Ausgangspunkt dieser Reise war eine Lebenskrise der Ich-Erzählerin, die in einer Depression gipfelte, welche aus den unterschiedlichen rassistischen und traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend resultierte. Schlaglichtartig erfahren wir von ihnen, durch die Beschreibung von bedrückenden Szenen wie z.B. der, als ihr beim Karneval im Gegensatz zu den anderen Kindern die schwarze Farbe im Gesicht verwehrt wird, weil sie ja schon Schwarz sei, oder der Verabschiedung von ihrem von Rassisten in Frankreich ermordeten Onkel in der Leichenhalle.

Durch ihre Reise erhält das individuelle Schicksal der jungen Frau jedoch eine historische und politische Dimension, da sie mit der Geschichte Namibias konfrontiert wird: 

Zum einen mit den Spuren der Apartheid, da Namibia von 1915 bis 1990 von Südafrika besetzt war, zum anderen aber auch mit den Spuren des Widerstands gegen den Völkermord an den Herero und Nama, der in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884–1915) unter Führung des preußischen Generals Lothar von Trotha mit Unterstützung des deutschen Kaisers Wilhelm II. begangen wurde. Bis zu 70 000 Menschen wurden zwischen 1904 und 1908 systematisch auf grausamste Weise gequält, ausgebeutet und ermordet, mit der Intention, die Herero und Nama zu vernichten. Im Verlauf des Hörspiels rücken die Geschichte dieses Völkermordes, die Versuche des Widerstands dagegen unter der Leitung von Samuel Maharero und Henrik Witbooi, und die Überführung von tausenden von Schädeln und Knochen der Opfer zur genetischen Erforschung ins deutsche Kaiserreich immer mehr in den Vordergrund. Über 100 Jahre dauerte es, dass die sterblichen Überreste der Opfer langsam, nach und nach an ihre Nachfahren zurückgeben werden, damit sie in ihrer Heimat bestattet werden können. Erst heute wird der Genozid an den Herero und Nama von der Bundesrepublik Deutschland offiziell als Völkermord bezeichnet und anerkannt. Das traurige Schicksal der Opfer kontrastiert Diouf im Hörspiel einerseits mit den herausragenden Leistungen und Widerstandsgesten Schwarzer Sportler:innen von Jesse Owens über Surya Bonaly bis Colin Kaepernick und andererseits mit ihrem eigenen, zunehmenden Mut, in die Fußstapfen ihrer Vorbilder wie Frankie Fredericks zu treten und als selbstbewusste und kämpferische, Schwarze Frau und Schriftstellerin sichtbar zu werden und ihre Stimme zu erheben.

Indem Diouf von diesen tiefen, anhaltenden Wunden spricht, die Kolonialismus und Rassismus geschlagen haben, und wie sie von ihnen spricht, tut sie das Einzige, was vielleicht zumindest ein bisschen dabei helfen kann, kaum heilbaren Wunden zu heilen: Sie holt sie aus dem Verdrängten, Verschwiegenen, Vergessenen in unser Bewusstsein, und sie tut das auf so poetische und einfühlsame Weise, dass sie uns beim Hören berühren und uns dazu bewegen, über die Ursachen dieser Wunden nachzudenken, sie besser zu verstehen, uns zu ihnen zu verhalten und Verantwortung zu übernehmen. Zu dieser Wirkung der Hörspielfassung von Dioufs Text (in der gelungenen Übersetzung durch Anette Bühler-Dietrich) tragen insbesondere die herausragende schauspielerische Leistung von Abak Safaei-Rad und die gekonnte Inszenierung von Christine Nagel bei: Zum einen bringt uns Abak Safei-Rad die Erzählstränge mit ihrem mal sanften, mal entschlossenen und immer überzeugenden Stimmeneinsatz sehr nahe und lässt uns so an der konkret und plastisch ausgeformten Erzählung intensiv teilhaben. Zum anderen werden die ineinander verwobenen Erzählstränge mittels Gesängen von Hereros, dezenter Musik und ausgewählten Geräuschen dramaturgisch und in puncto Dynamik präzise von Christine Nagel in Szene gesetzt. Somit überzeugt Pisten von Penda Diouf gleich mehrfach auf den unterschiedlichen Ebenen als Hörspiel des Monats Juni 2022.    

Die Jury und der gastgebende Sender 2022

Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Die Autorin Penda Diouf
Foto privat

Das Hörspiel des Monats Mai 2022

ANNE LISTER - EINE EROTISCHE BIOGRAPHIE (3 Teile)

von Angela Steidele

  • Bearbeitung und Regie: Luise Voigt

  • Kompositin: Hans Peter Kuhn

  • Dramaturgie: Cordula Huth

  • Mit: Bettina Hoppe, Annika Schilling, Valery Tscheplanowa, Rebecca Birch, Altine Emini, Pirmin Sedlmeir, Katharina Shakina, Andrea Wolf, Oda Zuscheid, Cathlen Gawlich, Stephanie Eidt, Helge Heynold, Marie Paulina Schendel, Philine Schmölzer, Leonhard Koppelmann

  • Gesang: Anna Clementi

  • Produktion: hr

  • ESD: 08.05. (1), 15.05. (2), 22.05.2022 (3)

  • Länge: 61'07‘‘(1), 58'29‘‘(2), 45'46‘‘(3)

Anne Lister - Eine erotische Biographie Hörprobe

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Bettina Hoppe bei der Aufnahme
Foto hr/Ben Knabe

zum Hörspiel, zur Audiothek der ARD 

Begründung der Jury 

Eine Art weiblicher Casanova

„Anne Lister – Eine erotische Biografie“...

„Anne Lister – Eine erotische Biografie“ von Angela Steidele, als Hörspiel bearbeitet von Luise Voigt, nimmt uns mit in das intime Leben der 1791 geborenen und 1840 gestorbenen englischen Gutsherrin Anne Lister. Die lesbische Geschäftsfrau und Erbin des historischen Landhauses Shibden Hall schrieb intensiv Tagebuch in einer eigens von ihr entwickelten Geheimschrift, in der sie ihre sexuellen Praktiken detailliert festhielt. Als eine Art weiblicher Casanova hatte sie zahlreiche Geliebte, war gebildet in Fächern und Disziplinen, die sonst nur Männern vorbehalten waren, wie Algebra, Altgriechisch, Latein, Fechten und Schach, reiste durch Europa und bestieg als erste den über 3000 Meter hohen Berg Vignemale in den Pyrenäen.
Wir begleiten Anne Lister und ihre Partnerinnen und Affären durch das 19. Jahrhundert, sind oft geschockt von ihrer Brutalität, Übergriffigkeit, politischen Positionierung sowie Parteinahme für das Patriarchat und gleichzeitig fasziniert von ihrem Mut, ihr Begehren entgegen allen gesellschaftlichen Normen und Gesetzen auszuleben.

Hervorzuheben ist darüber hinaus, dass sich die Autorin immer wieder selbst in das Geschehen mit hineinwebt: So hören wir auch Steideles eigene Position und erfahren von Stationen ihrer Recherche zu Anne Lister. Zudem werden heutige Meilensteine in der Geschichte der Homosexualität, wie die Ehe für alle, in den Blick genommen und mit Anne Listers Biografie in Verbindung gesetzt.
Der Autorin gelingt somit ein neuer Blick auf Geschichte: Porträtiert wird in besonderer Intensität ein Leben, das herausragt und verstört. Anne Lister wird hierbei nicht heiliggesprochen, sondern in ihrer Ambivalenz und Brüchigkeit gezeigt. Sie überschreitet Grenzen in jeglicher Hinsicht: gesellschaftliche, zwischenmenschliche, körperliche und moralische.

Besonders hervorheben und würdigen möchten wir die Leistung von Luise Voigt, die aus den unterschiedlichsten Ebenen der von Angela Steidele verfassten Biografie von Anne Lister ein lebendiges, fesselndes und als Ganzes überzeugendes Hörspiel in drei Teilen geschaffen hat.
Dialoge, Auszüge aus Anne Listers Tagebüchern, Reiseberichte, gesellschaftspolitische Einordnungen, poetologische und philosophische Reflexionen des Genres „Biografie“ und immer wieder auch die lasziven Gesänge der italienisch-schwedischen Sängerin und Schauspielerin Anna Clementi, die uns atmosphärisch in den Bann ziehen, lassen uns teilhaben an dieser spannenden und verstörenden Reise durch Anne Listers Leben.
Die Jury zeichnet daher „Anne Lister – Eine erotische Biografie“ als Hörspiel des Monats Mai aus.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022
Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Das Hörspiel des Monats April 2022

TOT IM LEBEN

von Mona Winter

  • Regie: Mona Winter

  • Musik: Bülent Kullukcu

  • Dramaturgie: Regine Ahrem

  • Mit: Patrycia Ziolkowska, Oda Thormeyer, Kristof van Boven, Jörg Pose; im O-Ton Mariana Karkoutly

  • Produktion: RBB

  • ESD: 29.04.2022

  • Länge: 53'00

Tot im Leben Hörprobe

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Oda Thormeyer bei der Aufnahme
Foto rbb/Thomas Ernst

zum Hörspiel, zur Audiothek des RBB 

Begründung der Jury 

Kriegstraumata: Sie beeinflussen das Leben von Mamá, Gisi und Maya, selbst wenn der Krieg 80 Jahre zurück liegt oder noch immer über 3000 Kilometer entfernt tobt. Krieg lässt einen nicht so einfach los und seine Schrecken werden meist an nachfolgende Generationen weitergeben. Er hinterlässt Menschen tot im Leben.

Mamá, Gisis Mutter, ist Deutsche und hat den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie gerät immer wieder mit ihrer Tochter aneinander, weil Gisi sich gegen das Verdrängen der Mutter und für die Aufarbeitung der deutschen Schuld einsetzt. Maya, eine Freundin von Gisi, ist vor dem Krieg in Syrien geflohen und hat als Jugendliche die Schrecken des Regimes von Bashar al-Asad erlebt, der 2000 als Diktator an die Macht kam. Die drei Frauen erzählen ihre Geschichten nach und nach collagenartig: mal in dialogischen Szenen, mal im O-Ton, in dem Maya von ihren schrecklichen Diktatur- und Kriegserfahrungen in Syrien berichtett, und immer wieder als innerer Monolog von Mamá und Gisi. Durch diesen radiophonen Kniff, der im Manuskript „Kopfstimme“ und „Kopfraum“ genannt wird, erhalten die Zuhörer und Zuhörerinnen unmittelbar Zugang zu den Gefühlswelten der deutschen Mutter und ihrer Tochter und den Traumata durch direktes und indirektes Erleben von Krieg.

Auf poetische Weise werden dabei die unterschiedlichen Geschichten und Erzählstränge verwoben, die Zeitebenen geraten durcheinander, Reales und Fantastisches, Gegenwart und Vergangenheit fließen kaum merklich ineinander, getragen von der dezenten Musik von Bülent Kullukcu.  

Unterbrochen wird der Erzählstrom lediglich von Zitaten zum Krieg berühmter deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Nelly Sachs, Kurt Tucholsky und Thomas Mann und immer wieder vom Kinderchor des „Kingdom of Horror“, wie Maya auch ihr Heimatland Syrien nennt, und den verlockenden Gesängen der männlichen Sirenen. Sirenen sind denn auch das Leitmotiv dieses eindrücklichen Hörspiels, das auf seine ganz eigene Weise alarmiert. Dabei schwebt letztlich über allem immer die Frage und Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit in der Zukunft.

„Tot im Leben“ gelingt es kunstvoll vom Spezifischen auf etwas Allgemeingültiges und Zeitloses zu verweisen und eindrücklich die wichtige Frage zu stellen, wie wir mit den Erinnerungen an die Grausamkeiten des Krieges weiterleben können.

Die Jury vergibt daher den Preis für das Hörspiel des Monats April 2022 an „Tot im Leben“ von Mona Winter.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022
Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Gespräche aus der Hörspielwerkstatt #04 

Mona Winter, Autorin und Regisseurin von "Tot im Leben", im Gespräch mit der Kulturbloggerin Lena Kettner über die Arbeit am Hörspiel

Lobende Erwähnung 

 Eine lobende Erwähnung spricht die Jury dem Stück „Peeling Oranges“ (SWR) von Patty Kim Hamilton aus für die in dem Hörspiel besonders einfühlsam, vielschichtig und komplex erzählte Familiengeschichte: Zwei Schwestern und ihre Mutter, südkoreanische Migrantinnen der ersten und zweiten Generation, versuchen zwischen den Welten und Zeiten in den USA ihr Glück zu finden. Durch die poetische Weise, in der Hamilton von individuellen Besonderheiten sowie familiären und kulturellen Konflikten erzählt, lädt sie nicht nur zum Entdecken des Fremden, sondern auch der geteilten Gemeinsamkeiten ei

zum Hörspiel, zur Audiothek des SWR 

Das Hörspiel des Monats März 2022

All right. Good night
von Helgard Haug (Rimini Protokoll)

  • Regie: Helgard Haug

  • Regieassistenz: Roman Podeszwar

  • Komposition: Barbara Morgenstern

  • Dramaturgie: Martina Müller-Wallraf

  • Mit: Emma Becker, Evi Filippou, Margot Gödrös, Mia Rainprechter

  • ESD: 20.03.2022

  • Länge: 54'00''

All right. Good night Hörprobe

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Szenenfoto der Theaterinszenierung "All right. Good night" von Helgard Haug (Rimini Protokoll) bei den Mühlheimer Theatertagen
Foto Merlin Nadj-Toma

zum Hörspiel, zur Audiothek des WDR 

Begründung der Jury 

Das Hörspiel „All right. Good night“ der Autorin und Regisseurin Helgard Haug des Performancekollektivs Rimini Protokoll möchte das Unfassbare fassbar machen. Unfassbar zum einen ist das heute noch unaufgeklärte Verschwinden der Maschine des Flugs MH 370 der Malaysia Airlines von Kuala Lumpur nach Peking im März 2014 – mit seinen insgesamt 239 Todesopfern. Unfassbar zum anderen ist der schleichende Prozess der „Volkskrankheit“ Demenz, der Erkrankte wie Angehörige gleichermaßen betrifft und auch zeichnet, körperlich wie psychisch.

Auf der einen Seite steht die Geschichte einer einzelnen Person im Vordergrund. Es handelt sich um den Vater der Autorin, dessen vor etwa acht Jahren festgestellte Demenzerkrankung und der persönliche Umgang mit dieser Krankheit: ein Schicksal, das allein in Deutschland millionenfach geteilt wird. Der schleichende und unaufhaltsame Krankheitsprozess kommt in persönlichen Notizen und Beobachtungen zum Ausdruck: „Er [der Vater] schreibt: ‚Stellt mir bitte direkt die Fragen, die ihr habt, ich möchte in der Krankheit nicht untergehen und ein unselbstständiges Objekt werden. Ich bitte Euch um Nachsicht für meine Fehler und Patzer, geht bitte erst einmal davon aus, dass es nicht Absicht ist, sondern Folge der Krankheit oder Ausdruck meiner Verwirrung und der Scham darüber.‘“

Auf der anderen Seite steht das kollektiv erfahrene Unglück der beim Flugzeugabsturz umgekommenen Personen im Vordergrund sowie exemplarisch die Suche eines Angehörigen, der dabei seine Familie verlor, nach Wahrheit, nach Gewissheit: „Ghyslain Wattrelos schreibt seiner verschollenen Frau und seinen Kindern. Nachrichten. Täglich. Täglich. Vielleicht empfangen sie ja diese Nachrichten, dort, wo sie jetzt sind, sagt er.“
Jene scheinbar unvereinbaren Erzählstränge werden im Hörspiel „All right. Good night“ von Helgard Haug mal parallel geführt, mal intelligent miteinander verknüpft und gleichberechtigt ineinander verwoben. Es werden darin Themen wie Vergessen, Verschwinden oder auch Verantwortung verhandelt. Die Balance zwischen nüchterner, sachlicher Beschreibungen und der Darstellung des Kampfs der einzelnen Personen gegen das Verschwinden und Vergessen wird im Laufe des Stücks nahezu immer ohne allzu großes Pathos gewahrt – verstärkt von der sehr präsenten, einem Requiem gleichenden Musik (Komposition: Barbara Morgenstern).

Der Text, die Musik und die Stimmen des Sprecherinnen-Ensembles erzeugen letztlich beim Hören einen starken Sog, dem man sich als Hörer*in nicht entziehen kann.

Blickt man zudem auf die bisherigen Theater- und Radioarbeiten von Helgard Haug und Rimini Protokoll zurück, vollzieht sich mit diesem Stück ein bemerkenswerter Perspektivwechsel. Nicht außenstehende Expert*innen des Alltags sind hier im Fokus, sondern es ist die persönliche Perspektive der Autorin und Regisseurin, die nun – gleichsam als Expertin des Alltags – den größten Raum der Erzählung einnimmt.

Dem Stück gelingt es, Unbegreifliches, nicht oder nur kaum Nachvollziehbares in eine konkrete und klare Sprache zu überführen; ihm gelingt, den Hinterbliebenen und Angehörigen, den Zurückgelassenen in ihren Auseinandersetzungen Raum und Ausdruck zu verleihen. Die Jury zeichnet daher „All right. Good night“ als Hörspiel des Monats März aus.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022
Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Gespräche aus der Hörspielwerkstatt #03 

Helgard Haug, Rimini Protokoll, Autorin und Regisseurin von "All right. Good night", im Gespräch mit der Kulturbloggerin Lena Kettner über die Arbeit am Hörspiel

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung spricht die Jury für das Hörspiel „Tod – was soll das?“ der Autorin und Regisseurin Gesche Piening aus: einerseits aufgrund der in dem hervorragend montierten Text eingenommenen Perspektive der (ehemaligen) Kinder, die aus Erwachsenen- bzw. Heranwachsenden-Sicht auf das Tabuthema „Umgang von Kindern mit dem Tod nahestehender Personen“ zurückblicken; andererseits aufgrund der sehr bemerkenswerten Leistung des Sprecher*innen-Ensembles.

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Das Hörspiel des Monats Februar 2022 

Satellitenbilder deiner Kindheit - Annäherung an den Vater
von Leon Engler

  • Regie: Leon Engler und Jörg Schlüter

  • Regieassistenz: Ellen Versteegen

  • Komposition: Leon Engler

  • Dramaturgie: Hannah Georgi und Natalie Szallies

  • Mit: Niklas Draeger, Nagmeh Alaei, Silke Linderhaus, Paula Essam, Steffen Reuber

  • ESD: 06.02.2022

  • Länge: 52'40''

Satellitenbilder deiner Kindheit - Annäherung an den Vater Hörprobe

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Der Autor Leon Engler (links im Bild) mit Hauptdarsteller Niklas Draeger im WDR Hörspielstudio.
Foto Jörg Schlüter

zum Hörspiel, zur Audiothek des WDR 

Begründung der Jury 

„Ich verfluche diesen Text. Ich verfluche die Unübersichtlichkeit der Gegenwart.“

Dieses Bekenntnis des Erzählers gegen Ende des Hörspiels „Satellitenbilder deiner Kindheit“ von Leon Engler irritiert auf besondere Weise. Es unterbricht jäh den hypnotischen Sog, mit dem dieser dichte, poetische und präzise beobachtete Text die Hörenden vom ersten Moment an bannt und in die berührende Erzählung dieses Originalhörspiels hineinzieht. Sprecher und Musik unterstützen die melancholisch-hypnotische Kraft des herausragenden Textes. Dabei handelt es sich weniger um eine Geschichte im klassischen Sinne als vielmehr um den Bericht eines jungen Schriftstellers, der damit ringt, der Geschichte seines gestrauchelten Vaters und damit zugleich seiner eigenen Geschichte Herr zu werden. Dieses konkrete Vater-Sohn-Verhältnis wird über das individuelle Schicksal der beiden einerseits durch Bezug auf Franz Kafkas „Brief an den Vater“, auf Kronos, Odysseus, König Laios und Darth Vader herausgehoben. Andererseits sind in den Text Zitate der Ideolog*innen des Neoliberalismus verwoben, vor deren Hintergrund nicht nur das vermeintliche Scheitern des Vaters und die tiefgehende Erschöpfung des Sohnes die angemessene strukturelle Dimension bekommen, sondern auch eindringlich die Frage nach sozialer Gerechtigkeit und die Zukunft der Menschen gestellt wird. Was wir beim Hören bezeugen ist das mutige Ringen eines jungen Schriftstellers darum die Balance zu finden zwischen Konkretem und Abstraktem, zwischen Gefühlen und Weltpolitik. Die große literarische Qualität des Textes und der Mut sich künstlerisch den schwierigen Fragen unserer komplexen, unübersichtlichen Gegenwart zu stellen, macht Leon Englers „Satellitenbilder deiner Kindheit“ für uns zum Hörspiel des Monats Februar 2022.

Die Jury und der gastgebende Sender 2022
Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Gespräche aus der Hörspielwerkstatt #02 

Jörg Schlüter, Co-Regisseur von "Satellitenbilder deiner Kindheit - Annäherung an den Vater", im Gespräch mit der Kulturbloggerin Lena Kettner über die Arbeit am Hörspiel

Das Hörspiel des Monats Januar 2022 

DAS SCHNECKENGRABHAUS
von Denijen Pauljević

  • Regie: Ralf Haarmann

  • Musik & Gesang: Irena Tomažin

  • Redaktion: Katja Huber

  • Mit: Zeynep Bozbay, Jelena Kuljić, Stefan Merki, Johannes Herrschmann

  • Produktion: BR

  • ESD: 14.01.2022

  • Länge: 64'32‘‘

Das Schneckengrabhaus Hörprobe

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Denijen Pauljevic
Foto Kalle Singer

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Begründung der Jury 

„Das Schneckengrabhaus” von Denijen Pauljević erhält die Auszeichnung Hörspiel des Monats Januar 2022, weil es rundum überzeugt: Text, Dramaturgie, schauspielerische Leistung, Musik und radiophone Umsetzung sind auf hervorragende Weise gelungen und stimmig. Hinzu kommt die große Relevanz der Geschichte, die durch die gekonnte Inszenierung tief berührt: Ramisa, beeindruckend glaubhaft von Zeynep Bosbay gespielt, hat nirgendwo einen Platz, dafür umso mehr Wut: Die Romni aus Serbien, die Lateinlehrerin werden wollte und sich stattdessen mit einem Ein-Euro-Job auf einem Münchner Friedhof über Wasser hält, soll abgeschoben werden.

Wir erleben Ramisas Wut und werden selber wütend: über die Ungerechtigkeit, die ihr widerfährt, über ein Leben, das nie richtig beginnen durfte, über die staatliche Willkür, die sie zurückweist und abschieben will in eine Heimat, die nie eine war, und wo die Romni den rassistischen Anfeindungen serbischer Nazis ausgesetzt sein wird. Wir befinden uns in München, in einer Stadt, die behauptet für alle da zu sein. Aber für Ramisa ist München nicht da. Sie hat gar nicht die Chance, hier ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Trotzdem kämpft sie und beeindruckt mit ihrer Stärke, Wortgewalt und Klugheit.

So unberechenbar wie Ramisas Wut sind die Szenen, in denen wir uns plötzlich wiederfinden. Wir lernen neben Ramisa u.a. ihre Mutter, ihren Lehrer, ihre Sachbearbeiterin und ihre imaginäre Anwältin kennen, die alle lediglich von Zeynep Bozbay und Jelena Kuljić gespielt werden, was alles noch klaustrophobischer erscheinen lässt. Zugleich lockert ihr großartiges Spiel das Geschehen aber auch auf: Manchmal wissen wir nicht, ob wir lachen oder weinen sollen. In der Ausweglosigkeit von Ramisas Situation blitzt immer wieder auch eine Komik auf: eine Leichtigkeit, die Hoffnung gibt oder zumindest aufscheinen lässt.

Ramisa ist ein Mensch, um den es sonst nie geht. Ein Mensch, dessen Stimme nicht gehört wird. Denijen Pauljevićs „Das Schneckengrabhaus“ lässt uns diesem Menschen zuhören und zieht uns in Ramisas Bann mit einer Sprache voller Kraft und Bilder. Besonders hervorzuheben sind zudem die begeisternde klangliche Gestaltung in der Regie von Ralf Haarmann und der beeindruckende Gesang von Irena Tomažin. 

Die Jury und der gastgebende Sender 2022
Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur

Gespräche aus der Hörspielwerkstatt #01 

Denijen Pauljević, Autor von "Das Schneckenhausgrab", im Gespräch mit der Kulturbloggerin Lena Kettner über die Entwicklung des Stoffes und die Arbeit am Hörspiel

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung geht an „Was siehst du? Die Nacht!“ von Ludwig Fels und in der Regie und Bearbeitung von Stefan Weber. Dieses Hörspiel beeindruckt vor allem durch seinen herausragenden Text und die schauspielerischen Leistungen – insbesondere diejenige der 10-jährigen Naïma von Bargen als Mirka.

Eine weitere lobende Erwähnung spricht die Jury „Eurotrash“ von Walter Adler nach dem gleichnamigen Roman von Christian Kracht aus. Hervorzuheben sind hier vor allem die Hörspiel-Adaption und die überzeugende schauspielerische Leistung von Sylvester Groth als Christian Kracht und Jutta Hoffmann als dessen Mutter.

Hörspiel des Monats Dezember 2021 

Das hässliche Universum
von Laura Naumann

  • Regie: Julia Hölscher

  • Komposition: Tobias Vethake

  • Redaktion: Marcus Gammel

  • Dramaturgie: Julia Gabel, Johann Mittmann

  • Mit: Meriam Abbas, Pauline Gloger, Moritz Glove, Anja Herden, Zoe Hutmacher, Ulrich Noethen, David Ali Rashed u.v.a.

  • Produktion: Deutschlandfunk Kultur

  • ESD: 02.12.2021

  • Länge: 53'21‘‘

Das hässliche Universum Hörprobe, Ankündigung

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"Humans made the earth glow"
Foto EyeEm / Bernt Ove Moss

zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF Kultur 

Begründung der Jury 

„Unsere Vorstellungskraft ist unsere Waffe“

Rosa weiß, wie man vielsagende Botschaften in öffentlichkeitswirksame Likes verwandelt. In Laura Naumanns Hörspiel ist sie die Heilsbringerin im unübersichtlichen Universum digitaler Kommunikation. Dank ihr bekommt das Leben wieder einen Sinn: Für die Mutter dreier Kinder, die sich sehnlichst eine neue Herausforderung wünscht. Für den besorgten Bürger, der in seiner Podcast-Reihe Lebenstipps gibt. Für den verliebten Nachbarn, den komplexe philosophische Fragen quälen und für die Tochter, deren Familie endlich eine gemeinsame Aufgabe eint.

Rosa ist Visionärin und Influencerin, die mit ihrer authentischen Art überzeugende Videonachrichten kreiert, um die Welt zu rühren und schlussendlich ganz schön aufzurühren. „Alles muss brennen!“ schallt es aus dem Lautsprecher. Ein Streichorchester setzt ein. So klingt großes Kino für die Ohren. Als Rosa zur flammenden Revolution (oder doch nur zum nächsten Prank?) aufruft, wird der Weltuntergang in poetisch surreale Töne getaucht. „Darf ich stellvertretend dich anzünden? Für 8000 Jahre Patriachat? Scherz! Nur ein Scherz!“ heißt es an einer Stelle im Hörspiel, doch am Ende brennt die ganze Welt und das Spektakel wird mittels Livestream in die glühenden Wohnzimmer übertragen. Was bleibt ist ein flirrendes Gefühl der Uneindeutigkeit, die diese dystopische Geschichte durchzieht; steckt darin doch eine riesige Palette an aktuellen Themen - von Selbstoptimierungsphantasien, Sicherheits- und Vorurteilsdebatten bis hin zu Verschwörungstheorien ist alles dabei. Aber heute hängt sowieso alles mit allem zusammen und wer in diesem Hörspielkarussell nach abschließenden Antworten sucht, wird sich heillos darin verfangen.

Eine starke Soundkulisse voll Pathos und Ironie unterteilt die losen Szenenfolgen über den digitalen Alltagswahnsinn in vielschichtige Hör-Räume. Nur der beherzte Einsatz von allerlei Streichinstrumenten hält dem schnellen Wechsel der Themen und Perspektiven einen akustischen Fixpunkt entgegen. Dazwischen wird mit Halleffekten, dramatischen Musikeinlagen, Geräuschsamples und allerlei Getöse gearbeitet. Nicht nur akustisch ist dieses Hörspiel beständig an der Kippe zur Überzeichnung inszeniert und kommt doch immer genau auf den Punkt. „Das hässliche Universum“ ist eine gelungene Hörspielperformance und ein fröhlich beschwingtes Zeitrafferbild aktueller Mediendebatten.

Die Jury und der gastgebende Sender 2021
Margarte Affenzeller, Kulturjournalistin, Wien
Christine Ehardt, Film- und Medienwissenschaftlerin, Wien
Florian Kmet, Komponist und Musiker, Wien
Gastgebender Sender: Österreichischer Rundfunk

Die Neuen für's Hörspiel 

Die neue Jury für das Hörspiel des Monats/Jahres 2022 ist berufen!

Das Team besteht aus Ania Mauruschat, Neo Hülcker und Vito Pinto.

Wir freuen uns sehr und sind gespannt auf die Entscheidungen des neuen Jahrgangs.
Der DLF/ DLF Kultur ist 2022 der gastgebende Sender – wir danken für den Vorschlag zur Zusammensetzung der neuen Jury!

Ania Mauruschat

Ania Mauruschat ist Radiojournalistin, Medienkulturwissenschaftlerin und Hochschuldozentin mit den Schwerpunkten Sound und Ästhetik. Nach ihrer Ausbildung zur Redakteurin an der Deutschen Journalistenschule in München arbeitete sie zehn Jahre lang hauptberuflich für den Hörfunk der ARD und forschte, lehrte und promovierte danach zu Hörspiel und Radiokunst in Basel und Zürich. Seit September 2021 forscht sie im Rahmen eines Marie-Curie-Stipendiums der Europäischen Kommission an der Universität Kopenhagen zum Verhältnis von Klang und Klimakrise in Dänemark/Grönland und Australien. www.aniamauruschat.de (Foto Maria Dorner)

Neo Hülcker

Neo Hülcker ist ein* Komponist* - Performer*, dessen* Fokus auf Musik als anthropologische Untersuchung in alltäglichen Lebensumgebungen liegt. Seine* Kompositionen nehmen meist in Form von Situationen, Performances, Installationen, Videos, Aktionen und Interventionen Gestalt an und beschäftigen sich mit digitalen Praxen (wie z.B. ASMR), Kindheit, Tier-Mensch-Beziehungen, queeren Handlungsweisen und kulturellem Hacking. Hülcker studierte Komposition bei Dieter Mack und Harald Muenz an der Musikhochschule Lübeck und bei Manos Tsangaris und Franz Martin Olbrisch an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden www.neohuelcker.de (Foto Silvia Maggi)

Vito Pinto

Vito Pinto arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Studiengangbeauftragter am Seminar für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin. Zudem ist er in unterschiedlichen Kontexten als Kulturarbeiter (Projektmanager, Dozent, Moderator) und Textwerker (Autor, Lektor) tätig, u.a. als Feature-Autor, als Moderator (DLF Kultur »Hörthea-ter«, 2015-2019), als Mitveranstalter des »Berliner Hörspielfestivals« (2013-2017). Vito Pinto studierte Theaterwissenschaft sowie Französische Philologie und arbeitete am Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« an der FU Berlin, wo er eine theaterwissenschaftliche Dissertation zum Thema »Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film« verfasste. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören u.a.: Dramaturgien und Ästhetiken des Hörspiels, zeitgenössisches Theater, Selbstinszenierungen im Pop. www.vitopinto.com

Hörspiel des Monats November 2021 

Blume Wolke Vogel Fisch
von Ruth Johanna Benrath

  • Regie & Redaktion: Stefan Kanis

  • Komposition: Janko Hanushevsky

  • Mit: Wolf-Dietrich Sprenger, Bibiana Beglau, Boris Aljinovic, Paulina Bittner

  • Produktion: MDR

  • ESD: 29.11.2021

  • Länge: 49'11‘‘

Blume Wolke Vogel Fisch Hörprobe

/

zum Hörspiel, zur Audiothek des MDR 

Ruth Johanna Benrath
Foto Bernd Suchland

Begründung der Jury 

 Der Klang eines präparierten Musikinstrumentes mit einem beschwingten und leicht drängenden Rhythmus und die sonore, angenehm alte Stimme von Herrn B., die scheinbar vor sich hin fantasiert, sind gleich zu Beginn eine offene Einladung, in diese Geschichte einzusteigen. Plötzlich der nüchterne Bericht einer kurzen Szene aus dem Pflegeheim. Ein Satz. Mal zwei. Der Bewohner des Heimes ist ungehalten und will wieder mal nicht nach den Regeln spielen. Dann ein Märchen. Es knistert und rauscht. Seine innere Stimme folgt sogleich.

So vielschichtig und scheinbar chaotisch fängt das Hörspiel mit dem schönen Titel „Blume Wolke Vogel Fisch“ an. Und bleibt dabei. Verloren fühlt man sich aber nicht, eher aufgehoben. Abgeholt von den fein ziselierten Klängen der Musik, der klangvollen Stimme der Hauptfigur. Dem Schnittrhythmus der Szenen. Den Wiederholungen der Schauplätze, die man wieder erkennt, die man erinnert. Mit ihnen weitergeht. 

Der Text von Ruth Johanna Benrath reiht und verwebt Geschichten und Ebenen in scheinbar zusammenhangloser Abfolge zu einer rau strukturierten Oberfläche. Die fühlt sich warm an. Der hört man gerne zu. Das ist auch der besonderen Musik von Janko Hanushevsky zu verdanken, der einem mit seinen Klängen und verspielt abstrahierten Kinderliedern die offene Hand entgegenstreckt. Die Struktur von Musik und Text, die sich mit der Stimme von Herrn B, gesprochen von Wolf-Dietrich Sprenger, mischt und reibt. Die klare Regie von Stefan Kanis und die Stimmen des Ensembles machen das Stück zu einer besonderen Stunde im freiem Assoziationsraum, mit subtilem Spaß und Tiefgang. „Pommerland ist abgebrannt“.

Die Jury und der gastgebende Sender 2021
Margarte Affenzeller, Kulturjournalistin, Wien
Christine Ehardt, Film- und Medienwissenschaftlerin, Wien
Florian Kmet, Komponist und Musiker, Wien
Gastgebender Sender: Österreichischer Rundfunk

Die neue Jury für die Initiative Hörspiel des Monats/Jahres 2022 ist berufen! 

Das Team besteht aus Ania Mauruschat, Neo Hülcker und Vito Pinto.

Wir freuen uns sehr und sind gespannt auf die Entscheidungen des neuen Jahrgangs.
DLF und DLF Kultur sind 2022 der gastgebende Sender – wir danken für deren Vorschlag zur Zusammensetzung er neuen Jury!

  • Ania Mauruschat ist Radiojournalistin, Medienkulturwissenschaftlerin und Hochschuldozentin mit den Schwerpunkten Sound und Ästhetik. Nach ihrer Ausbildung zur Redakteurin an der Deutschen Journalistenschule in München arbeitete sie zehn Jahre lang hauptberuflich für den Hörfunk der ARD und forschte, lehrte und promovierte danach zu Hörspiel und Radiokunst in Basel und Zürich. Seit September 2021 forscht sie im Rahmen eines Marie-Curie-Stipendiums der Europäischen Kommission an der Universität Kopenhagen zum Verhältnis von Klang und Klimakrise in Dänemark/Grönland und Australien. www.aniamauruschat.de

  • Neo Hülcker ist ein* Komponist* - Performer*, dessen* Fokus auf Musik als anthropologische Untersuchung in alltäglichen Lebensumgebungen liegt. Seine* Kompositionen nehmen meist in Form von Situationen, Performances, Installationen, Videos, Aktionen und Interventionen Gestalt an und beschäftigen sich mit digitalen Praxen (wie z.B. ASMR), Kindheit, Tier-Mensch-Beziehungen, queeren Handlungsweisen und kulturellem Hacking. Hülcker studierte Komposition bei Dieter Mack und Harald Muenz an der Musikhochschule Lübeck und bei Manos Tsangaris und Franz Martin Olbrisch an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden www.neohuelcker.de

  • Vito Pinto arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Studiengangbeauftragter am Seminar für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin. Zudem ist er in unterschiedlichen Kontexten als Kulturarbeiter (Projektmanager, Dozent, Moderator) und Textwerker (Autor, Lektor) tätig, u.a. als Feature-Autor, als Moderator (DLF Kultur »Hörtheater«, 2015-2019), als Mitveranstalter des »Berliner Hörspielfestivals« (2013-2017). Vito Pinto studierte Theaterwissenschaft sowie Französische Philologie und arbeitete am Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« an der FU Berlin, wo er eine theaterwissenschaftliche Dissertation zum Thema »Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film« verfasste. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören u.a.: Dramaturgien und Ästhetiken des Hörspiels, zeitgenössisches Theater, Selbstinszenierungen im Pop. www.vitopinto.com

Der gastgebende Sender 2022 ist Deutschlandfunk / Deutschlandfunk Kultur

Vito Pinto, Neo Hülcker, Ania Mauruschat (v.l.n.r.)
Fotos: Silvia Maggi (Neo Hülcker), Maria Dorner (Ania Mauruschat)

Hörspiel des Monats Oktober 

Alice - Krimi-Hörspielserie in 8 Teilen
von Feo Frank (Dorian Brunz)

  • Regie: Eva Solloch

  • Dramaturgie: Jakob Schumann

  • Mit: Marleen Lohse, Hanna Plaß, Fabian Busch, Mira Partecke, Kathrin Wehlisch, Philipp Lind, Kim Riedle, Timur Isik, Roman Knižka, Bernd Moss, Imogen Kogge, Bastian Reiber u.v.a.

  • Produktion: DLF Kultur / BR

  • ESD: Teile 1-4: 23.10.2021 (DLF), Teile 5-8: 27. U. 28.10.2021 (DLF Kultur)

  • Länge: 8 x ca. 27 min.

Alice Hörprobe

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Marleen Lohse
Foto Max Sonnenschein / Layout Anja Enders, Deutschlandradio

Begründung der Jury 

Warum ist die Leiche aus einem Pool irgendwo in Deutschland plötzlich lebendig in Ecuador und kommt im Andenhochland bei einem Bergunfall ums Leben? In Feo Franks (Dorian Brunz) Hörspieldebüt „Alice“ gibt es darauf eine recht einfache Antwort, und doch ist diese Krimiserie alles andere als simpel gestrickt. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die profunde Schutzschilde und Lügengeschichten fürs tägliche Leben benötigen, sodass sie einander und auch uns, die Hörerschaft, permanent auf unsicheres Terrain führen.

Selten hört man derart subtil korrumpierte Stimmen, wie sie sich vorgeblich nett und verständnisvoll an andere wenden. In Wahrheit ist ihnen aber nicht zu trauen. Es sind höchst unzuverlässige Dialoge, die uns in das Beziehungsgeflecht der hier agierenden Menschen hineinziehen - die potenzielle Lüge schwingt vom ersten Moment an als Echo mit.

Allen voran ist da die Ich-Erzählerin Alice, die bei einer Agentur für die Überbringung schlechter Nachrichten arbeitet. Als Hiobsbotschafterin muss sie die Emotionen anderer Menschen kontrolliert abfangen und steuern, weil die Lebenspartner mit ihnen Schluss gemacht haben, weil sie gekündigt werden oder weil sie bankrottgegangen sind. In kurzer Zeit findet sie sich in einem tragischen, erpresserischen Wissensgefüge wider, in dem auch ihre Freundin Caro, eine Radiojournalistin, und deren Mann Youssef sowie ihre Kollegin Naomi und die Chefin Florence eine wichtige Rolle spielen. Der Polizeikommissar komplettiert die mysteriös miteinander verbundenen Personen. Die hervorragenden Schauspielstimmen erzeugen ohne jedes Forcieren nuancierte Gefühlslagen. Sie klingen alle irgendwie nett, aber bei genauerem und längerem Hinhören erkennt man ihre verschleierten Abgründe. Wer angespannt spricht, kann dennoch zugleich berechnend vorgehen. Und dann tun sich unheimliche Räume auf und nehmen Gespräche denkwürdige Wendungen. Besonderen Gewinn schlägt die Arbeit aus der auch ineinander geschnittenen Doppelrolle von Alice als Hauptfigur sowie als intime Erzählerin der Geschichte, die die Hörerschaft konspirativ-wehklagend für sich einzunehmen versucht.

Der mysteriöse Drift von „Alice“ ist eine weitere Kraftquelle dieser Hörspielserie. Wir wissen nicht genau, in welchen Zeit wir uns befinden. In der Zukunft? Immerhin wird unauffällig, aber wiederholt darauf hingewiesen, dass man schon längst keinen Tabak mehr bekomme. Obendrein scheint die Hiobsagentur Bestandteil einer Outsourcing-Gesellschaft zu sein, die alles Leben über bezahlte Dienstleistungen managt. Für diese dystopische Gesellschaftskritik und ihre Mystery-Schlagseite gibt es Douze Points!

Die Jury und der gastgebende Sender 2021

Margarte Affenzeller, Kulturjournalistin, Wien
Christine Ehardt, Film- und Medienwissenschaftlerin, Wien
Florian Kmet, Komponist und Musiker, Wien
Gastgebender Sender: Österreichischer Rundfunk

zum Hörspiel, zur Audiothek des Dlf Kultur 

Hörspiel des Monats September 

Das große Heft
von Ágota Kristóf

  • Bearbeitung und Regie: Erik Altorfer

  • Komposition: Martin Schütz

  • Redaktion: Sabine Küchler

  • Mit: Libgart Schwarz, Kristof Van Boven

  • Produktion: DLF / HR / SRF

  • ESD: 18.09.2021

  • Länge: 1h 53'11‘‘

Das große Heft Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF 

Libgart Schwarz
Foto Oscar Alessio / SRF

Begründung der Jury 

„Beunruhigend“, „Großartig“, „Stark“: So lauteten die ersten Kommentare der Jury zu dieser Hörspieladaption von Ágota Kristófs Romanbestseller „Das große Heft“. Natürlich bietet ein starker Ausgangstext eine gute Grundlage für eine gelungene akustische Umsetzung. Erik Altorfer hat es aber geschafft, gemeinsam mit dem Komponisten Martin Schütz eine atmosphärische Dichte zu kreieren, die das Werk über den Text hinaus zu einem beeindruckenden Hörerlebnis macht.

Zwei Brüder werden zu Kriegsbeginn der Obhut der Großmutter übergeben. Es sind Zwillinge deren Stimmen im Hörspiel von Libgart Schwarz und Kristof Van Boven gesprochen werden. Sie erzählen in schonungsloser Genauigkeit und im sachlichen Ton von der Gefühlskälte, Verarmung und Gewalt, der sie von nun an ausgesetzt sind. Die beiden Geschwister beginnen sich an diese Umgebung anzupassen. Sie versuchen sich mental und körperlich abzuhärten, unterrichten sich selbst und legen ein Heft mit allen Erlebnissen an. Für ihr Überleben werden sie zu Dieben, Bettlern, Rächern und Mördern. Lernen aber auch anderen zu helfen und nach eigenen Moralvorstellungen zu handeln.

Kristófs unverwechselbarer Schreibstil bleibt im Hörspiel erhalten. Kurze Sätze in einfacher Sprache und größter Direktheit entfalten gemeinsam mit einer klaren Musiksprache einen vielschichtigen Hörraum. Die ruhigen Melodien drängen sich nie vor die beklemmenden Zustandsbeschreibungen einer verrohten Gesellschaft, bleiben jedoch immer präsent und geben den Rhythmus des Stücks vor. Es sind aber vor allem die beiden Stimmen von Schwarz und Van Boven von denen man unweigerlich gefangen wird. Die eindringlichen Berichte in direkter und indirekter Rede, im Duett gesprochene Sätze und Satzwiederholungen wechseln sich mit kunstvoll gesetzten Pausen ab. Besonders diese Momente der Stille verleihen der Brutalität des Gesagten noch mehr Nachdruck. Auch die formale Strenge der Originalvorlage bleibt im Hörspiel erhalten, der dramaturgisch gut strukturierte Text greift kein Wort zu viel und kein Bild zu wenig aus Kristófs Roman heraus.
Mit der Hörspielfassung von „Das große Heft“ ist eine perfekte Komposition aus Sprache, Stimmen, Stille und Musik gelungen.

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung geht an die so lautmalerische wie mitreißende Soundcollage „Selbstbeschreibung“ von Oliver Augst und Michael Riedel (Autorenproduktion im Auftrag des HR). Ein Klangabenteuer voller Witz, Charme und Rhythmus.

Hörspiel des Monats August 

Die Arbeit an der Rolle - Ein musikalisches Hörspiel
von Noam Brusilovsky und Lucia Lucas

  • Regie: Noam Brusilovsky

  • Redaktion und Dramaturgie: Andrea Oetzmann

  • Mit: Heldenbaritonistin Lucia Lucas, begleitet von Alessandro Praticò am Klavier, Mechthild Großmann, Vassilissa Reznikoff, Benjamin Lee und James Edgar Knight

  • Produktion: SWR2

  • ESD: 15.08.2021

  • Länge: 52'07‘‘

Die Arbeit an der Rolle Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek des SWR 

Lucia Lucas
Foto © SWR/Björn Pados

Begründung der Jury 

Singen lernen bedeutet, die eigene Stimme kennenzulernen. Ist die Tonlage hell oder dunkel, weiblich oder männlich? Wie sehr ist eine Stimme geschlechtlich konnotiert? Mit diesen Fragen haben sich Theater- und Hörspielregisseur Noam Brusilovsky und Sängerin Lucia Lucas beschäftigt und ein vielschichtiges Hörspiel entwickelt, das rund um Mozarts Oper „Don Giovanni“ mit echten Überraschungsmomenten aufwartet. In „Die Arbeit an der Rolle“ beschreibt Lucia Lucas die Ausbildung ihrer eigenen Stimmlage sowie ihren beruflichen Werdegang, der sie 2009 von Oklahoma nach Deutschland an verschiedene Opernhäuser führte. Allerdings hört man dies alles eine männliche Stimme erzählen. Warum? Lucia Lucas singt auch nicht die Rolle der Donna Anna, sondern die des Titelhelden Don Giovanni, den Prototypen des männlichen Verführers. Wie sehr sich vorgefertigte akustische Bilder beim Hören manifestieren, wird erst klar, als sich Lucas als Transgendersängerin vorstellt, ein weiblicher Bariton, der ungeachtet ihrer geschlechtlichen Identität eine klassische Männerstimmlage beherrscht und praktiziert. Dieser spannende Aspekt aktueller Identitätsdiskurse ist Kern eines raffiniert gebauten Hörspiels, das sich atmosphärisch und szenisch herleitet aus E.T.A. Hoffmanns Novelle „Don Juan“, in dem sich ein auf Reisen befindlicher Opernliebhaber im Hotel auf seinen „Don Giovanni“-Besuch vorbereitet. Dieses historische Setting voller Vorfreude auf das Hörvergnügen wird immer wieder verschnitten mit der Gegenwart: mit Lucas‘ Erzählung, mit Reflexionen von Gesangslehrerinnen und internationalen Musikerinnen. Im Sprachengewirr bildet sich nicht nur eine Vielfalt an charaktervollen Sprechstimmen ab, sondern mischen sich auch übende Gesangsstimmen darunter und plötzlich auch ein Computerspiel-Sound, der das Spiel „World of Warcraft“ und dessen Zusammenbauen individueller Heldenfiguren analog zu Lucas‘ Identitätsfindung im realen Leben lesbar macht. Man könnte sie eine „Heldenbaritonistin“ nennen. Ein Kritiker bezeichnete sie als „Baritonesse“. Das Hörspiel besticht nicht nur durch seine spannend entschlüsselte Dramaturgie und eine sonst wenig beachtete Thematik, sondern hält ausgehend von Lucas‘ „Don Giovanni“ auch viel Wissen über klassische Stimmausbildung und Gesangspraxis bereit. Die einigermaßen eng definierten Rollenfächer (der Heldenbariton eignet sich beispielsweise für die Figuren böser Väter oder beleidigter Liebhaber) sind ein ideales Anschauungsfeld bzw. Hör-Feld, um Identitätsschablonen zu diskutieren und aufzubrechen.

Hörspiel des Monats Juli 

Dankbarkeiten
nach dem gleichnamigen Roman von Delphine de Vigan

  • Bearbeitung und Regie: Irene Schuck

  • Redaktion und Dramaturgie: Andrea Oetzmann

  • Mit: Jenny König, Hedi Kriegeskotte, Nico Holonics, Nadine Kettler, Lisa Wildmann

  • Produktion: SWR

  • ESD: 12.07.21

  • Länge: 79'19‘‘

Dankbarkeiten Hörprobe

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Hedi Kriegeskotte
Foto Christian Koch / SWR

zum Hörspiel, zur Audiothek des SWR 

Begründung der Jury

„Sagen Sie ihr, dass ich sie nicht stöbern will.“ Michka ist eine ältere Dame, die langsam ihre Sprache verliert. Der Verlust macht ihr Angst. Hedi Kriegeskotte, die berührende, großartige Sprecherin der Figur, schleust ihre Dysfunktionalitäten fast unmerklich ein. Es ist, als ob man gemeinsam eine neue Sprache lernen würde. Marie, Michkas frühere Nachbarin, ist für sie wie ihre Enkeltochter, die sie auf ihrem Weg begleitet. Als Michka nicht mehr alleine leben kann und ins Seniorenheim umzieht, trifft sie dort auf Jérôme, einen jungen Logopäden, der sich gerne und empathisch mit ihr auseinandersetzt und anfreundet. Er übt mit ihr und hilft ihr dabei, ein Ehepaar zu finden, das ihr in jungen Jahren das Leben gerettet hat. 

Den schleichenden Zerfallsprozess der Sprache in den Mittelpunkt eines Hörspieles zu stellen ist ein bestechend gutes Thema. Besonders, wenn er so subtil und schlicht dargestellt wird, dass man sich beim Zuhören manchmal fragt, ob man sich jetzt verhört hat oder kurz unaufmerksam war. „Es hat sich in Muff aufgelöst“ sagt MischkaBeiläufig entwickeln sich neue Beziehungen zwischen den allesamt spannenden Figuren. Dabei jongliert Regisseurin Irene Schuck subtil und warm mit den Ängsten, Sehnsüchten, Limitationen und Ideen der Protagonisten. Feine musikalische Klänge und Strukturen kommen und gehen, ohne sich aufzudrängen.

Dem Ende wohnt ein Anfang inne, der neugierig macht auf den weiteren Verlauf.

Hörspiel des Monats Juni 

Flüstern in stehenden Zügen

nach dem gleichnamigen Theaterstück von Clemens J. Setz

  • Bearbeitung und Regie: Philip Scheiner

  • Komposition: Stefan Martin Weber, Grilli Pollheimer

  • Mit: Raphael Muff (C), Evamaria Salcher (Kundin), Franz Solar (Techniker)

  • Redaktion: Elisabeth Zimmermann, Kurt Reissnegger

  • Produktion: ORF (Kooperation von Österreich1 mit dem Schauspielhaus Graz und dem Landesstudio Steiermark)

  • ESD: 13.06.21

  • Länge: 54'19‘‘

Flüstern in stehenden Zügen Hörprobe

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Aus Gründen des Urheberrechts können wir in diesem Fall keinen Link zum ORF zum Nachhören bzw. Download des Hörspiels anbieten.

Raphael Muff (C)
Foto Jakob Fessler / ORF/Ö1

Begründung der Jury

„Hallo, mein Name ist Riese, ich möchte Ihnen bitte all mein Geld überweisen. Wie mach ich das?“

Der Horror jedes Konsumentenschutzverbandes wird hier zur nächtlichen Beschäftigungstherapie für den Computerladenmitarbeiter „C.“. Raphael Muff als einsamer Protagonist dieses eindringlichen Audiomonologs durchwühlt seinen Spamordner auf der Suche nach der nächsten Abzockermail. Mit schwerer Zunge geht er mit seinen betrügerischen Gesprächspartner*innen auf Tuchfühlung, gewitzt versucht er menschliche Regungen beim stummen Gegenüber zu provozieren und erfindet sich dabei von Telefonat zu Telefonat neu.

In Philip Scheiners Bearbeitung des gleichnamigen Theaterstücks von Clemens J. Setz werden die kurzen Gesprächspassagen zu aufgeheizten Klangwüsten. Den Dialog bleibt er schuldig, denn die Antworten auf C.s Gesprächsbemühungen sind nicht zu hören. Gerade das macht das Radiostück zum emotionalen Hörspielabenteuer. Das Zuhören wird zur Achterbahnfahrt der Gefühle: Ekel, Mitgefühl, Unverständnis, Schadenfreude wechseln sich genauso schnell ab wie die Namen der kontaktierten Callcentermitarbeiter*innen.

Sie tun einem fast schon leid, die Ulrichs, Arthurs, Bobs, Angelikas und Gerds da auf der anderen Seite der Telefonleitung. C. lässt nicht locker, zählt gefakte Passwörter auf, wiederholt geduldig falsche Kundennummern und erzählt nebenbei von seiner Schwester Dora, die leider vom Bora-Wind in Triest davongeweht wurde, von seinen neuen Boxhandschuhen mit den klingenden Namen „Billy und Scott“ und von weiteren tragischen Schicksalsschlägen seiner erfundenen Verwandtschaft.

Der dramaturgisch fein gewebte Text mit seinen raumgreifenden Pausen hat die Jury sofort in den Bann gezogen. Zusammen mit der nuancenreichen Stimme Raphael Muffs entfaltet die sphärische Klangkomposition aus metallischen Sounds ein wunderbares akustisches Kammerspiel. Muffs Stimme changiert zwischen Zärtlichkeit, unverhohlener Aggressivität und unendlicher Traurigkeit. Dahinter steht eine dichte Klangkulisse voller mysteriöser Geräusche, die durch die Leitungen vibrieren. Grilli Pollheimers Originalmusik fürs Theaterstück akzentuiert gemeinsam mit den Sounds von Stefan Martin Weber das Gesprochene.

Und plötzlich, nach all den ins Leere gesprochenen Dialogen, gibt es Antworten. Der Arbeitskollege (Franz Solar) lässt sich zur Mittagsjause einladen und die Kundin aus dem Computerladen (Evamaria Salcher) zeigt echtes Interesse an C.s Flirtversuchen. Das weckt berechtigte Hoffnung auf ein Happy End.

Hörspiel des Monats Mai 2021 

Hier ist noch alles möglich

von Gianna Molinari

  • Bearbeitung: Stephan Heilmann und Julia Glaus

  • Regie: Julia Glaus

  • Komposition: Fatima Dunn

  • Mit: Henni Jörissen (Ich), Michael Neuenschwander (Chef), Sven Schelker (Clemens), Thomas Douglas (Koch), Bodo Krumwiede (Lose), Inga Eickemeier (Erika)

  • Produktion: SRF

  • ESD: 08.05.21 Teil 1, 15.05.21 Teil 2

  • Länge: 50'11‘‘ Teil 1, 49'13‘‘ Teil 2

Hier ist noch alles möglich Hörprobe

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Henni Jörissen (Ich) und Sven Schelker (Clemens)
Foto SRF/Oscar Alessio

zum Hörspiel, zur Audiothek des SRF 

Die Begründung der Jury 

Eine Kartonfabrik, alleine auf weiter Flur. Fast leer. Die Erzählerin beginnt hier mit ihrer Arbeit als Nachtwächterin. Worauf sie aufpassen soll? Nicht einmal ihr Chef scheint das genau zu wissen. Und dann der Wolf. Auch er kommt in der Nacht und dringt in neue Gebiete vor. Früher waren hier die Tische in der Kantine noch voll. Früher gab es auch keine Wölfe. Und dann fällt etwas vom Himmel. Spannend und rätselhaft breitet sich dieses kunstvolle Hörspiel vor uns aus. Richtung und Ausgang bleiben offen.

Die Erzählerin, eine Frau unter lauter Männern. Sie begegnet dem Koch, dem Chef und ihrem Kollegen an diesem geheimnisvollen Ort auf Augenhöhe. Der Wolf, der sich nie wirklich in Fleisch und Blut manifestiert, und doch ständig präsent bleibt. Die einen wollen ihn jagen, die anderen wollen ihn schützen. Und dann ein ungeklärter Unfall bei dem ein Mensch aus dem Flugzeugfahrwerk in die Tiefe stürzt.

Viel Raum für eigene Bilder. Durch die ruhige, nuancierte Stimme der Erzählerin und den offenen Ausgang zieht sie uns in ihren Bann. Es weben sich Ebenen aus Fabrikhallengeräuschen, akustischen Instrumenten und Field Recordings leicht in die Erzählung ein. Fatima Dunn hat eine subtile und berührende Klangkomposition in Szene gesetzt.

Kunstvoll, geschmeidig, unvorhersehbar, spannend und poetisch-musikalisch entspinnt sich die Adaptierung des preisgekrönten Romandebüts von Gianna Molinari in der Bearbeitung von Stephan Heilmann.

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung geht an „Briefe aus der Hölle“  von Andreas Weiser  (HR).
Das Hörspiel entfaltet eine große Kraft und Direktheit. In seiner erschütternden Klarheit bringt es neue tiefe, sehr persönliche Einblicke und trifft mitten ins Herz, mitten ins Gefühl.

Hörspiel des Monats April 

Feuersturm

Von David Paquet

  • Übersetzung aus dem kandischen Französisch: Frank Weigand

  • Regie: Anouschka Trocker

  • Dramaturgie: Anette Kührmeyer

  • Produktion: SR/DLF Kultur

  • ESD: 11.04.

  • Länge: 61'33‘‘

Feuersturm Hörprobe

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Hörspiel April 2021

David Paquet (Foto Julie Artacho)

Die Begründung der Jury 

Selten zieht das Zuhören so in den Bann wie im Fall von „Feuersturm“ des kanadischen Autors David Paquet. Was geht hier vor sich? Kann man es denn wirklich glauben? Wie ein modernes böses Märchen, in dem sich in einer x-beliebigen Familie eine Verwünschung festgebissen hat, rollt das Hörspiel gewitzt und zügig die Verderben bringenden Verhältnisse dreier Generationen aus.

Schlimmste Dinge geschehen, ein Vater hat sich umgebracht, ein Kind löscht seine Familie aus, ein anderes Kind wird weggelegt (bzw. verschickt!). Und doch greift hier nicht die große Tragik Fuß – dafür bleibt gar keine Zeit -, sondern der Schalk einer leichthändigen, schwarzhumorigen Erzählung, der sich in knappen Dialogen weit über den fatalen Inhalt erhebt.

In drei Teilen entfaltet sich, dramaturgisch höchst raffiniert, ein mysteriöser Abstammungs- und Sippenhaftungsthriller, in dem wahrlich nichts Erwartbares passiert. Und dennoch sind es die ganz banalen Dinge, die es in sich haben: Kekse backen, ins Kino gehen, Haustiere halten. Es fällt kein Wort zu viel. Ein vokaler Purismus und eine heutzutage ungewöhnliche, aber wirkmächtige auditive Schlankheit - Dialoge, Selbstgespräche, Telefonate, Musik – würdigen zudem eine Sprache, die alles Abgegriffene ausspart und die den Ereignissen in präziser Schärfe folgt.

Ausgehend von den Drillingen Claudine, Claudie, Claudette und weiter über Clement und Carole bis hin zu Caroline und ihrer lebensgefährlichen Libido zieht sich eine unergründliche Spur der Vorbestimmung, die das Motiv der Unentrinnbarkeit auf vergnügliche Weise durchspielt. Trotz eines großen Erzählbogens über mehrere Generationen findet sich in diesem phantastischen Hörspiel Platz für aussagekräftige, intensive Momente einzelner Figuren, die man so schnell nicht wieder vergisst. Das alles zusammen ist ein Kunststück, wenn nicht ein Zauberwerk. Und ein überaus gelungenes Beispiel einer verdichteten Fabulierkunst.

Hörspiel März 2021 

Sirenwebclient.exe

Von Christine Nagel

  • Regie: Christine Nagel

  • Komposition/Sprachaufnahmen: Peter Ehwald

  • Gesang: Lauren Newton

  • Dramaturgie: Michael Becker

  • Produktion: NDR/DLF gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa

  • ESD: 10.03.

  • Länge: 54‘30‘‘

Sirenwebclient.exe Hörprobe

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Hörspiel März 2021

Christine Nagel (Foto ©Birgit Beßler)

Lobende Erwähnung

Eine lobende Erwähnung geht an „Blackbird“, die Hörspieladaption des gleichnamigen Romans von Matthias Brandt in der Bearbeitung und Regie Leonhard Koppelmanns, das den Klang und die Stimmung der 1970er Jahre auf leichtfüßige Weise eingefangen hat.

Die Begründung der Jury 

Ein Hörspiel über das Thema Stimme – Was naheliegend klingt, wurde doch bisher selten verwirklicht. Christine Nagel hat den Versuch gewagt.

„Willkommen in der Welt der Sprachsynthese“: Die Radio-Moderatorin Marie nutzt Computer-Tools, um ihre persönliche KI-Stimme zu entwickeln. Das soll Zeit sparen im schnellen Rhythmus der digitalen Arbeitswelt. Aus Marie wird SIREN – Eine exakte Kopie ihrer Stimme. Doch was, wenn sich diese Stimme selbständig macht und eigenständige Entscheidungen trifft?

Ein Hörspiel über das Thema Stimme – Was naheliegend klingt, wurde doch bisher selten verwirklicht. Christine Nagel hat den Versuch gewagt. Ihre semidokumentarische Spurensuche nach dem markantesten Element des Radios eröffnet zugleich einen spannenden Blick in die digitale Welt von heute und morgen.

Bilden Person und Stimme eine unverbrüchliche Einheit und was bleibt von der eigenen Identität übrig, wenn sich die dazugehörige Stimme nur mehr aus Algorithmen speist? Philosophische Fragen, die Christine Nagel von verschiedenen Seiten beleuchtet und mit charmanten Details versieht. Wenn etwa Marie ihr digitales Ich mit Merseburger Zaubersprüchen überfordert. Oder ihre Seelenstimme, gesprochen von Ilse Ritter, so gar nichts mit der raumlosen KI-Stimme SIRENS anfangen kann.

Die Auswirkungen synthetischer Sprachprogrammierung und unendlicher Datenspeicherung auf Arbeit und Alltag sind vielfältig. Wird alles besser? Wird alles schlechter? Oder einfach nur anders? Christine Nagel vermeidet es uns eindeutige Antworten zu geben. Vielmehr zeigt sie durch die geschickte Verschränkung so vieler Bedeutungsebenen - von Philosophie, Hörspielkunst, Radiopraxis über Computertechnologie und Digitalität – die ungelösten Herausforderungen gegenwärtiger Entwicklungen auf.

Ein gelungenes Audio-Experiment über die Zukunft des Radios, dass zugleich eine tönende Hommage an die Geschichte des Hörspiels ist.

Hörspiel Februar 2021 

Woanders

Ein Hörspiel in Auseinandersetzung mit Texten von Thomas Brasch
Von Diana Näcke, Christina Runge, Masha Qrella

  • Regie: Diana Näcke, Christina Runge, Masha Qrella

  • Komposition: Masha Qrella

  • Dramaturgie: Barbara Gerland

  • Produktion: Deutschlandfunk Kultur

  • ESD: 24.02.

  • Länge: 50‘26

Hörspiel Februar 2021

Woanders

Lobende Erwähnung

Eine lobende Erwähnung geht an „Saal 101. Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess“ von Katarina Agathos, Julian Doepp, Katja Huber, Ulrich Lampen, das mit einer heute kaum mehr zu realisierenden, immensen Recherchekapazität und einem schlüssigen Konzept aus verschieden wahrnehmbaren Stimmen eines Stücks (nicht aufgezeichneter) Zeitgeschichte habhaft wird.

Die Begründung der Jury 

Thomas Brasch, der von der Geschichte zu Unrecht scheinbar verschluckte Schriftsteller, bekommt eine neue Chance.

Unser Hörspiel des Monats Februar ist: „Woanders“ Ein Hörspiel in Auseinandersetzung mit Texten von Thomas Brasch. Von Diana Näcke, Christina Runge und Masha Qrella

Thomas Brasch, der von der Geschichte zu Unrecht scheinbar verschluckte Schriftsteller, bekommt eine neue Chance. Zwanzig Jahre nach seinem Tod legt das Hörspiel „Woanders“ die in jedem einzelnen Wort seiner Dichtkunst gespeicherte Kraft frei. Dafür haben Diana Näcke, Christina Runge und Masha Qrella einen bemerkenswerten musikästhetischen Weg gewählt, der die Lyrik neu zum Leben erweckt: Thomas Brasch goes Techno (nicht nur).

Die Sätze hallen keineswegs wie Relikte aus einer fernen Vergangenheit nach, sondern treffen mit den Sounds der Berliner Sängerin Masha Qrella auf verblüffend geschmeidige Weise mitten hinein in gegenwärtige Befindlichkeiten und gesellschaftspolitische Fragestellungen (Sie hat daraus erfreulicherweise ein ganzes Album gemacht). Das ist einerseits einer konzisen Textauswahl geschuldet, die jeden Satz für uns Hörerinnen und Hörer fruchtbar macht. Denn auch wir sind Formen der Entpersonalisierung und Vereinsamung ausgesetzt, wie sie Brasch immer wieder thematisiert hat. Einmal heißt es: „Die Arbeit ist auch ein Mittel geworden, im Zeitalter der Automatisierung seine Zeit zu verbringen. (...) Mich interessiert ein arbeitsloses Land, durch das zwei Frauen reisen.“

Andererseits glückt die Wiedererweckung dieser Literatur vor allem dank der musikalischen Erzählweise. In der strengen, aber leichthändig wirkenden Partitur stehen Braschs Texte in mehreren „Seinszuständen“ nebeneinander: als von Qrella gesprochenes Zitat, als von ihr, Andreas Bonkowski und Chris Imler vertonte Lyrik oder als Originalton Braschs aus dem Archiv. Sie spiegeln sich effektvoll ineinander. Die Arbeit gibt den Sätzen Raum - Raum, den Lyrik kaum je zugesprochen bekommt. 

Das Tonstudio und seine Geräusche sind dabei immer nur leicht aus der Ferne wahrnehmbar. Wir hören also ein vom Produktionsgrund emanzipiertes Hörspiel, das „woanders“ spielt, in einer ganz eigenen, unabhängigen und berückenden Tonwelt.

Hörspiel Januar 2021 

Nagelneu

Von Hendrik Quast und Maika Knoblich

  • Regie: Hendrik Quast und Maika Knoblich

  • Komposition: Katharina Stephan

  • Dramaturgie: Christina Hänsel

  • Produktion: WDR 2021

  • ESD: 25.01.2021

  • Länge: 30'33‘‘

Hörspiel März 2021

Nagelneu (Foto ©Hendrik Quast)

Lobende Erwähnung

Eine lobende Erwähnung geht an „Am Rande des Untergangs vergnügt sich das Kapital“ (DLF Kultur) von Joël László. Ein vielschichtiges Konzept, ein sehr aufwändig recherchiertes, poetisch politisches Manifest, das Sprach- und Klangkunst auf eine sehr eigenständige und kunstvolle Weise verbindet.

Die Begründung der Jury 

Feilen, schleifen, kleben. Full covers, Stempel, French, Glitzer. Natur oder Kunstnagel? „Aber wenn du Natur willst, dann kannst du auch nur zu Hause rumsitzen. Brauchst du nicht hierherkommen.“

Dieses Hörspiel von Maika Knoblich und Hendrik Quast ist die Herzensentscheidung der Jury aus Wien für den Jänner 2021. Die Autoren haben mit ihrer Idee einen leichten und lustvollen Zugang zum Zuhören erdacht. Man lebt mit, riecht den Lack beim Trocknen, spürt die Feilen zwischen den Fingern, stellt sich hunderte Designs von fake nails vor und kann endlich das Mäuschen im Eck vom Hinterzimmer des Nagelstudios sein. Stellvertretend für alle Büroküchen, Besprechungszimmer oder Musikbackstage-Räume dieser Welt. Eine schmirgelnd raue, glitzernde Sound- und Dialogwelt, die in die Tiefe geht, um gleich wieder an der Oberfläche dahinzukratzen. Das ermöglicht ein verspieltes Ein- und Aussteigen. Kunstvoll gesetzte Pausen, die Platz zum Abdriften in eigene Gedankenwelten anbieten und gleichzeitig neugierig machen, wie es denn jetzt gleich weitergehen wird. Verhandelt werden Körperpflege, Kundenerziehung, aufgerissene Männer und Hochzeitsnägel, Krankheiten, Beziehungen, die eigenen Grenzen und vieles mehr. Der ganze Schönheitsbetrieb, der hier als Platzhalter für eine Vielzahl an Jobs und Arbeitssituationen steht, kann stellvertretend gleich im Nagelstudio besucht werden.

Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste benennt zum  

Hörspiel des Jahres 2020

Türken, Feuer

von Özlem Özgül Dündar

  • Regie: Claudia Johanna Leist

  • Komposition: Schneider TM (Dirk Dresselhaus)

  • Mit: Lilay Huser, Marina Galic, Kathleen Morgeneyer, Johanna Gastdorf, Ansgar Sauren, Francesco Schramm, Tula Rilinger

  • Dramaturgie: Gerrit Booms

  • Produktion: WDR

  • Länge: 53'28‘‘

  • Erstsendung: 18.04.2020

Am 29. Mai 1993 kommen in Solingen fünf Menschen türkischer Abstammung bei einem Brandanschlag ums Leben. Eine von ihnen ist Gürsün İnce, die sich für ihre dreijährige Tochter opfert, als sie mit ihr aus dem Fenster springt. Das Hörspiel gibt ihr eine Stimme. Ihr und weiteren Frauen: die Mutter eines mutmaßlichen Täters, eine zweite Tote und eine Überlebende, sie alle kreisen in Gedanken um die Katastrophe und das Leben mit dem Schmerz. Der Fenstersprung, die Angst vor dem Feuer und das Schweigen, bis die Polizei eintrifft: Die Frauen bleiben in ihrem Erleben gefangen und suchen trotzdem nach Austausch, Begegnung und der Möglichkeit eines Gesprächs.

Özlem Özgül Dündar
Foto © Dincer Gücyeter

Zur Autorin 

Özlem Özgül Dündar wurde 1983 in Solingen geboren, lebt in Leipzig und Solingen, studierte Literatur und Philosophie in Wuppertal und anschließend am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstücke und ist als Übersetzerin und Herausgeberin tätig. Sie hat die Geschehnisse von 1993 literarisch aufgearbeitet. Schonungslos, bildgewaltig und hochemotional.

Türken. Feuer Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek der ARD 

Die Begründung der Jury zur Wahl des Hörspiel des Jahres 2020 

In Ergänzung zu ihrer Monatsbegründung schreibt die Jury:

"Türken, Feuer" von Özlem Özgül Dündar konfrontiert sein Publikum eindringlich mit der grauenvollen Realität rassistischer Gewalt in Deutschland – und ist zugleich Einladung zum gesellschaftlichen Dialog. Zu Wort kommen, in literarisch verdichteter Form, die Opfer des fremdenfeindlichen Brandanschlags von Solingen am 29. Mai 1993. Das Stück verhandelt eines der brisantesten politisch-sozialen Probleme auf hohem künstlerischem Niveau. Dabei lässt es diejenigen zu Wort kommen, die zu diesem Thema viel zu wenig gehört werden: migrantische und weibliche Stimmen. Damit leistet "Türken, Feuer" einen wegweisenden Beitrag zu einer Kulturlandschaft, die der Diversität der deutschen Gesellschaft gerecht wird, wie auch zur politischen Bildung.  

Die Begründung der Jury zur Wahl des Hörspiel des Monats April 2020 

„alles hat eine ganz bestimmte stückzahl und meine füße kennen nur noch diesen einen weg mit dieser einen stückzahl und er führt ins feuer“. So spricht eines der Opfer des rassistischen Brandanschlags von Solingen am 29. Mai 1993, die im Hörspiel „türken, feuer“ von Özlem Özgül Dündar eine Stimme bekommen. Es sind ausschließlich Frauen, die sprechen. In einer Sprache, deren poetische Bilder so dosiert und präzise sind, dass sie das Geschehen mit einem Höchstmaß an erschütternder Intensität vergegenwärtigen.

Ein Albtraum made in Germany. Sein Drehbuch lautet: Deutsche töten „Andere“ durch Feuer.

1992 bildeten Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda den Auftakt einer rassistischen Anschlagsreihe in der Bundesrepublik. Jahrzehntelang nährten sie den für den Westen der Republik so bequemen Mythos, rassistische Gewalt sei vor allem ein ostdeutsches Problem. Nahezu völlig aus der kollektiven Erinnerung verdrängt wurden die ersten rassistisch motivierten Brandanschläge in Westdeutschland, in Mölln 1992 und eben in Solingen 1993.

Es ist ein großes Verdienst dieses Hörstücks, dass es dem Vergessen und der Verdrängung dieser Verbrechen entgegentritt. Es legt damit den Finger in die klaffende Wunde des Totalversagens einer Gesellschaft, die die wirklichen „Alarmzeichen“ einer Entwicklung, die bereits vor drei Jahrzehnten begann, bis heute weitestgehend ignoriert oder mindestens grob verharmlost.
Am 29. Mai 1993 zündeten vier junge vier junge Männer deutscher Abstammung in Solingen ein Haus an, in dem mehrere Familien türkischer Abstammung lebten. Fünf Menschen kamen durch den Brandanschlag ums Leben, darunter die 27-jährige Gürsün Inçe. Sie opferte sich für ihre dreijährige Tochter, indem sie mit ihr aus dem Fenster sprang und so fiel, dass das Kind überlebte. Im Hörspiel des Monats April 2020 lässt die Autorin Özlem Özgül Dündar, selbst 1983 in Solingen geboren, unter anderem diese Mutter zu Wort kommen und schildert das schreckliche Ereignis aus ihrer Perspektive. Diese intensive Innenschau der Gedankenwelt hat für die Betroffene den Effekt, dass sie nicht in der passiven Opferrolle verharrt, sondern zur aktiv Handelnden wird: das Erzählen als Selbstermächtigung gegen Vergessen, Rassismus, aber auch stereotype Geschlechterrollen.

Dem herausragenden Sprecherinnen-Ensemble gelingt es unter der Regie von Claudia Johanna Leist und subtil unterstützt durch die atmosphärische Spannung der Musik von Dirk Dresselhaus, den Toten, den traumatisierten Überlebenden, aber auch der Angehörigen eines mutmaßlichen Täters eine Stimme zu geben. In größtmöglicher Dringlichkeit konfrontiert das Hörspiel sein Publikum damit, wie es den Opfern rassistischer Gewalt ergeht. Anstatt jedoch bei sich selbst zu verharren, treten diese unterschiedlichen weiblichen Stimmen miteinander in Dialog und vollziehen so den Perspektivwechsel, der dieses Stück so herausragend macht:

„ich möchte mit dir sprechen ich möchte mit dir sprechen auch wenn ich keine stimme in diesem stück oder irgendeinem stück bekomme auf die straße will ich gehen und mit dir sprechen in einem raum der nicht hier ist in diesem stück wo alle uns hören ich möchte mich mit dir unterhalten mich mit dir austauschen ich möchte mehr reden mit dir mit menschen um mich herum ich möchte eine stimme haben eine stimme in dieser sprache und ich möchte mich mitteilen können meine gedanken aussprechen in der sprache die du verstehst“

Özlem Özgül Dündar belässt es in ihrem Hörspiel nicht dabei, nur den Opfern und somit auch den Frauen eine Stimme zu verleihen, sondern sie fordert zur Auseinandersetzung auch mit unvereinbaren Positionen auf. Eben dieser Perspektivwechsel ist die Grundvoraussetzung für die Überwindung rassistischer Denk- und Handlungsstrukturen. Wegen seiner großen gesellschaftlichen und politischen Dringlichkeit verbindet sich daher mit der Würdigung von „türken, feuer“ als Hörspiel des Monats nicht nur die dringende Empfehlung, dieses Stück zu hören, sondern auch, es in die Lehrpläne deutscher Schulen aufzunehmen.

 

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Eine von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste eingesetzte Jury wählt Monat für Monat aus den ARD-, ORF- und SRF-Ursendungen die nach ihrer Meinung beste Produktion. Aus 12 „Hörspielen des Monats“ wählt die gleiche Jury das „Hörspiel des Jahres“.

Thomas Böhm im Gespräch mit der Preisträgerin Özlem Özgül Dündar  

Die Preisverleihung konnte pandemie-bedingt nicht wie üblich Ende Februar 2021 als Präsenz-Veranstaltung stattfinden. Stattdessen wurde das Gespräch und die Preisverleihung per Videogespäch veranstaltet.

Hörspiel Dezember 2020 

Zauderwut

Von einer jungen Frau und ihrer Leidenschaft zu zaudern

von Bettie I. Alfred

  • Regie: Bettie I. Alfred

  • Mit: Bettie I. Alfred, Jens Harzer, Leopold von Verschuer, Daniel Höpfner, Paul Affeld

  • Redaktion: Regine Ahrem

  • Produktion: Autorenproduktion von Bettie I. Alfred/Balkonstudio 2020 für rbb

  • Länge: 51 ́40‘‘

  • Erstsendung: 18.12.2020

Foto Bettie I. Alfred

zum Hörspiel, zur Audiothek der ARD 

Die Begründung der Jury 

Ihr ganzes Leben lang zaudert Lissy. Schon früh lernt die ungewöhnlich kleine Frau, dass das Leben hart ist.

„Schreiben war die einzige Möglichkeit das ewige Gezaudere zu umgehen. Das Thema der Arbeiten, immer dasselbe in den verschiedensten Variationen: die Wollust der Traurigkeit. Und immer mehr auch (…): das ewige Scheitern, bedingt durch zu langes Zaudern.“

Ihr ganzes Leben lang zaudert Lissy. Schon früh lernt die ungewöhnlich kleine Frau, dass das Leben hart ist: Ihre Mutter verlässt die Familie, als Lissy noch ein Kind ist, der Vater landet daraufhin in der Psychiatrie, wo er sein Leben lang Labyrinthe malt und sich nicht mehr daran erinnert, dass er eine Tochter hat. Die Auswirkungen ihrer traurigen Kindheit beschreibt die eigenwillige Protagonistin aus Bettie I. Alfreds Hörstück so: „Nun als Erwachsene hatte ich also eine Art die Realität so zu sehen, wie sie war. Gnadenlos. Dies führte dazu, dass ich zauderte. Immerzu zauderte.“ Die einzige Möglichkeit für Lissy, mit ihrer Handlungs- und Entscheidungsunfähigkeit umzugehen, ist die künstlerische Auseinandersetzung.

Mit minimalistischen Mitteln macht das Stück Lissys Zaudern hörbar und legt zugleich den künstlerischen Schaffensprozess einer Hörspielproduktion offen. Lissy rekapituliert, protokolliert und erinnert sich an Ereignisse aus ihrer Vergangenheit, die mit der Gegenwart verschwimmen. Durch stilistische Kniffe wie Loops und Sprachaufnahmen, in denen Lissy laut an Sätzen feilt, die sie anschließend aufschreibt, entfaltet „Zauderwut“ eine wehmütige Komik des Scheiterns. Das Hörspiel verbindet charmant und gekonnt leise Melancholie und schrägen Humor, die durch die markanten Stimmen von Jens Harzer als Lissys Ehemann und Leopold von Verschuer als Vater getragen werden, aber auch durch den besonderen Charme der von der Autorin selbst gesprochenen Teile.

Mit „Zauderwut“ kürt die Jury eine im Heimstudio der Autorin entstandene Arbeit zum Hörspiel des Monats, die sich zum Teil auch augenzwinkernd mit den Standards und Ritualen des Mediums Radio bzw. Hörspiel auseinandersetzt. Stücke wie „Zauderwut“ repräsentieren einen wichtigen Aspekt der großen Vielfalt, die das Medium Hörspiel ausmacht – einen Aspekt, den der RBB mit der Sendung von Bettie I. Albrechts Stück auf hohem künstlerischem Niveau präsentiert.

Lobende Erwähnung

Für eine weitere Produktion, die uns im Dezember stark beeindruckt hat, möchten wir eine lobende Erwähnung aussprechen: Die vom BR aufwendig produzierte erste deutschsprachige Hörspieladaption von Elena Ferrantes Bestsellers „Meine geniale Freundin“ beeindruckt durch herausragende Sprecher*innen (u.a. Rosalie Thomass als Lenu und Enea Boschen als Lila) und eine große literarische Nähe zu Ferrantes Erfolgsroman. Hervorzuheben ist hierbei insbesondere die gekonnte Inszenierung der Vielschichtigkeit des ersten Bands der Neapolitanische Saga, durch die das Hörspiel dem literarischen Vorbild mehr als gerecht wird.

Hörspiel November 2020 

Atlas

von Thomas Köck

  • Regie: Heike Tauch

  • Komposition: Janko Hanushevsky

  • Mit: Mai Duong Kieu (Tochter), Dan Thy Nguyen (Herr Le), Stephan Grossmann (DDR Funktionär), Thuy Nonnemann (Mutter), Claudia Jahn (Chorstimme)

  • Redaktion: Steffen Moratz

  • Produktion: MDR

  • Länge: 69 ́36‘‘

  • Erstsendung: 09.11.2020

Atlas Hörprobe

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Thomas Köck
Foto ©privat

zum Hörspiel, zur Audiothek des MDR 

Die Begründung der Jury 

In einem historisch-geopolitischen Kartenwerk verzeichnet der Autor Thomas Köck die Grenzziehungen von globalen Machtverhältnissen und rassistischer Ausgrenzung.

Das Hörspiel des Monats November 2020 „Atlas“ erzählt eine Geschichte der vietnamesischen Arbeitsmigranten in der DDR während der 80er Jahre, vom Niedergang des sozialistischen Staates DDR und einem Kind einer vietnamesischen Arbeiterin und eines vietnamesischen Übersetzers, das inmitten dieser Ereignisse geboren wird.

In einem historisch-geopolitischen Kartenwerk verzeichnet der Autor Thomas Köck die Grenzziehungen von globalen Machtverhältnissen und rassistischer Ausgrenzung. Seine Tafeln bestehen aus Sprachbildern und Gedankenströmen, die Geschichte und Gegenwart in äußerst plastischer, erkenntnisstiftender Weise verschränken – mit scharfer Polemik, aber auch mit viel Empathie gegenüber menschlichem Leid. Köck entfaltet hierbei eine komplexe Familiengeschichte von Flucht und Migration aus Vietnam nach Deutschland und zurück, die quer zu den Kollektiverzählungen der Deutschen liegt. Literarisch versiert vereint das Hörspiel die Geschichte einer dramatischen Flucht und einer entzwei gerissenen Familie gegen Ende des Vietnamkriegs, der Arbeitsmigration „ausländischer Werktätiger aus dem kommunistischen Bruderstaat Vietnam“ in die DDR und einer Vietnamreise auf der Suche nach den Vorfahren.

30 Jahre nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland stellt das Hörspiel die Frage: „was heißt das schon / vereinigung nicht wer heißt das / sondern gegen wen“. Mit der Parole „Wir sind das Volk“ wurde 1989 gegen die DDR-Regierung protestiert, heute wird diese von völkischen Rechten gegen die parlamentarische Demokratie skandiert. Aus der Perspektive der vietnamesischen Arbeiterinnen und Arbeitern wird im Hörspiel erfahrbar, dass dieses „Wir“ auch die Ausgrenzung von „Anderen“ beinhalteten kann.

Schon die historische Einzigartigkeit der deutschen Wiedervereinigung ist nur „gefühlt“, wurde Vietnam doch bereits 1975 wiedervereinigt – unter sozialistischen Vorzeichen, durch den Sieg über den Kriegsgegner USA. Je nachdem, auf welcher politischen Seite sie sich wiederfanden, kamen Menschen aus Vietnam als Kontingentflüchtlinge nach Westdeutschland (wie die Mutter im Hörspiel) oder (wie die Tochter) als Vertragsarbeiterinnen in die DDR. Der Umgang des realsozialistischen Deutschland unterschied sich dabei in seinen rassistischen Praktiken nicht wesentlich von dem Umgang mit den sogenannten „Gastarbeiterinnen“ im kapitalistischen Westen: „der / bruderstaatliche weg was / für eine farce und jeden ersten mittwoch im monat / gesundheitschecks beim arzt weil der / bruderstaatliche weg auch nur ein survival of the fittest weil / der bruderstaatliche austausch fitte körper braucht“.

„wer / damit gemeint ist mit / dem nationalen frühling wer / durch diese blühenden landschaften einmal / spazieren darf“ und wer nicht, wird im Hörspiel rasch deutlich. Etwa wenn geschildert wird, wie kranke oder schwangere Vietnames*innen als nicht mehr arbeitstauglich abgeschoben werden. Besonders augenscheinlich wird es jedoch in der Wahrnehmung der sich anbahnenden Wiedervereinigung von DDR und BRD, die nicht als Grund zum Feiern, sondern zum Fürchten empfunden wird: „wir leben auf risiko wir / leben prekär weil wir hier / gar nicht vorkommen in dieser / posttraumatischen erzählung dieser / liebesgeschichte einer nation die / jetzt endlich wieder bei sich ankommen möchte“.

Das Hörspiel würdigt die Geschichte der Vietnamesinnen in Deutschland, weil es ihr nicht nur eine, sondern gleich mehrere Stimmen an einer exponierten Stelle im öffentlichen Diskurs gibt. Durch das kontrapunktische Spiel mit Sprachen und Akzenten, durch straff rhythmisierte Monologe und minimalistische Chorsequenzen gibt die Inszenierung dem Text eine enorme sinnliche Präsenz. Das souveräne Sprecherinnen-Ensemble wird dabei kongenial durch die Musik von Janko Hanushevsky unterstützt. Seine spröden, an den Bruchkanten zwischen Melodie und Geräusch angesiedelten E-Bass-Figuren machen das Leitmotiv des Risses fast haptisch präsent, das sich durch den Hörspieltext zieht: „ein riss nach dem anderen weist den weg / durch die geschichte.“

Die Mängel der sogenannten Wiedervereinigung wurden zum 30. Jahrestag zumeist als eine Art kollektive Beziehungskrise von Ost- und Westdeutschen verhandelt. Man kann es der Hörspielabteilung des MDR nicht hoch genug anrechnen, dass sie mit „Atlas“ dieses Narrativ gründlich verwirft und hinterfragt. Die Neuerzählung der deutschen Nach-Wende-Geschichte, die das Hörspiel des Monats November vornimmt, zeigt: Ein zukunftsfähiges, demokratisches und vielfältiges „Wir“ muss alle Menschen einschließen, die hier leben. Mit der Wahl seiner Erzählperspektive leistet das Stück selbst einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung dieses „Wir“, denn: „gäbe es eine logik in der geschichte wir / würden sie uns nicht andauernd neu erzählen müssen“.

Jury 2020 

  • Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München

  • Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München

  • Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

  • Gastgebender Sender 2020: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel Oktober 2021 

Ein Berg, viele

von Magdalena Schrefel

  • Regie: Teresa Fritzi Hoerl

  • Mit: Leonie Benesch, Richard Djif, Matthias Brandt u.a.

  • Redaktion: Katarina Agathos

  • Produktion: BR/ORF

  • Länge: 51 ́53‘‘

  • Erstsendung: 250.10.2020

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Berge, viele Hörprobe

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Foto ©BR

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Die Begründung der Jury 

Ende des 18. Jahrhunderts in Nordengland: Ein britischer Kartograph „ordnet die Welt in eine Karte“.

Die deutsche Hörspiel-Autorin Pearl wird in ihrem Sommer-Urlaub in Italien am Strand von einem Verkäufer angesprochen: Ismael stammt aus Niger, Westafrika und kam über das Mittelmeer nach Italien. Sofort wittert Pearl in dem afrikanischen „Sand-Flüchtling“ eine potenzielle Geschichte und zeichnet das Gespräch auf. Ismael wohnt, so berichtet er Pearl, in einem illegalen Camp. Der Name des Camps: Mount Kong. In Mount Kong herrscht laut dem Afrikaner der „king“, er muss seine Zustimmung geben, damit die Redakteurin Pearl das Lager besuchen kann. Das Lager selbst ist auf keiner Karte verzeichnet, es scheint eigentlich nicht zu existieren: "If you look in the maps, there are no camps. But in reality, they are everywhere." Pearl lässt sich von Ismael zum Camp bringen – ihre Entdeckungsreise einer unbekannten Landschaft beginnt.

Ende des 18. Jahrhunderts in Nordengland: Ein britischer Kartograph „ordnet die Welt in eine Karte“. Aus der Perspektive der europäischen Entdecker und Eroberer und zugleich aus der sicheren Distanz seines Arbeitszimmers blickt er auf den ihm unbekannten, afrikanischen Kontinent und brütet über einer scheinbar unlösbaren Frage: „Warum fließt der Fluss [Niger] nicht gerade, sondern gekrümmt? Warum biegt er ab? (...) Weil eigentlich doch jeder Fluss gen Europa fließt. So lernt es schon ein jedes Kind.“ Die Lösung des geografischen Problems ist für den Briten ein Gebirgsmassiv, das er kurzerhand schlussfolgert und dann als „Kong-Berge“ in den Karten verzeichnet – ohne dieses Gebirge je gesehen oder wahrhaftig „entdeckt“ zu haben. In den nächsten 150 Jahren wird es in beinahe allen Darstellungen des afrikanischen Kontinents auftauchen.

Indem das Hörspiel „Ein Berg, viele“ von Magdalena Schrefel die Geschichte des britischen Geografen James Rennell, der im 18. Jahrhundert das Gebirgsmassiv der „Kong-Berge“ erfand, mit der des westafrikanischen Flüchtlings Ismael verknüpft, dessen Aufenthaltsort und damit auch Existenz von den Europäer*innen weder anerkannt noch geduldet wird, thematisiert es koloniale Deutungshoheit damals wie heute und zeigt darüber hinaus auf, wie stark diese Deutungshoheit noch heute in der europäischen Weltwahrnehmung verhaftet ist: "Every kid in every school in the city I come from learned about the white man who drew la montagne sur la carte. And we learned that his word counted more than our experience", so Ismael.

Besonders auffällig ist hierbei, dass auch Ismaels Geschichte im Hörspiel wieder von einer weißen europäischen Deutungshoheit erzählt und interpretiert, ja sogar als Element eines Hörspiels instrumentalisiert wird. Nachdem die Autorin Pearl aufgrund ihres europäischen Passes schnell aus der Razzia im illegalen Flüchtlingscamp fliehen kann, sitzt sie kurz darauf schon wieder erleichtert im Flieger nach Deutschland. Hier kann sie dann in der Sicherheit des Studios die Geschichte von Ismael erzählen. Natürlich von einem deutschen Sprecher eingesprochen, denn ein deutsches Hörspielpublikum würde keine so langen englischen Aussagen anhören, so die Redakteurin.

Das Hörspiel führt so vor, wie schnell auch ein Hörspielprojekt über koloniale Deutungshoheit sich selbst ad absurdum führen kann, da es sich wieder in ebenjene Erzähltradition einreiht. Die große Leistung von Autorin und Regie (Teresa Fritzi Hoerl) ist aber, mit diesem unvermeidlichen Risiko bewusst umzugehen. Durch eine genau dosierte Überzeichnung von Genre-Klischees, etwa in Bezug auf historisches Erzählen oder auch auf die Meta-Erzählung mit der Redakteurin, stellt das Hörspiel seine eigene Konstruiertheit und damit auch die potenzielle Fragwürdigkeit seiner Konstruktion bewusst aus. Es lädt damit zum Nachdenken über koloniale Verhaltensmuster und Erzähltraditionen ein und lässt den privilegierten, westlichen Hörer ins Zweifeln über die eigene Wahrnehmung kommen. Denn: [E]s geht (...)um die Frage, was es heißt Geschichten zu erzählen, ob Behauptung nicht immer auch die Ausübung von Macht ist.“

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel September 2020 

Laute Nächte

von Thomas Arzt

  • Regie: Andreas Jungwirth

  • Mit: Sarah Viktoria Frick, Marie-Luise Stockinger, Felix Kammerer und Nikolaus Barton

  • Komposition: Hearts Hearts

  • Redaktion: Kurt Reissnegger

  • Produktion: ORF

  • Länge: 45 ́03‘‘

  • Erstsendung: 29.09.2020

Laute Nächte Hörprobe

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Hearts Hearts

© Tim Cavadini

Die Begründung der Jury 

Wir reden wie Fische unter Wasser, die Münder machen Laute wie Blubberblasen, nur dass wir keine Flossen haben, sondern Flügel, die schlagen in voller Freiheit, wie die Vögel.

Das muss man sich erst mal trauen: Ein Hörspiel über Gehörlosigkeit. In dem vom ORF produzierten Stück „Laute Nächte“ sind der Autor Thomas Arzt und der Regisseur Andreas Jungwirth dieses Wagnis eingegangen. Anna ist gehörlos, Martin nicht. Bei ihrer ersten Begegnung spielt das keine Rolle. Denn die findet auf der Tanzfläche in einem Club statt, wo man die Bässe der Musik mit dem ganzen Körper spüren kann – und es zu laut ist, um sich zu unterhalten. Eine klassische, fast prototypische Boy-meets-Girl-Geschichte dient Thomas Arzt als Folie für eine Versuchsanordnung. Wann wird es, nach der ersten, durch stumme Blicke und körperliche Anziehung vermittelten Begegnung, kompliziert? Wann wird sich entscheiden, ob Martin Anna als „behindert“ einschätzt und das Interesse an ihr verliert – oder sich die Möglichkeit für eine echte Beziehung eröffnet?

Die Band Hearts Hearts liefert den atmosphärisch dichten Soundtrack der Clubnächte, der laut oder nahezu komplett gedämpft ist – je nachdem, ob wir gerade Martins oder Annas Perspektive hören. Dies kann und will keine naturalistische Abbildung des Erlebens von Gehörlosen sein, schafft dafür aber eine klare dramaturgische Struktur, die das Gefühl, in getrennten Welten zu leben, erfahrbar macht. Erzählt wird die Geschichte im Wechsel zwischen Martins Dialogen mit seinem ebenfalls hörenden Freund Erik und Annas Dialogen mit ihrer gehörlosen Freundin Kathi. Die Stimmen der beiden Frauen sprechen sozusagen die Untertitel zu ihren Gebärdensprachdialogen.

In formaler Hinsicht besticht das poetische Hörspiel durch seine dramaturgische Stringenz und eine alltagsnahe Sprache, die gleichwohl gerade so stilisiert ist, dass klar wird: Es geht hier nicht um platten Sozialrealismus, sondern um die Reflexion von Erfahrungswelten. Inhaltlich ist die große Leistung des Stücks, dass es nicht nur Hörenden einen Perspektivwechsel in die Situation von Gehörlosen ermöglicht. Die Themen, die Anna im Dialog mit Kathi verhandelt, sind ganz generell für das Verhältnis von Menschen mit und ohne Behinderung relevant, wenn nicht gar noch allgemeiner für das von Mehrheitsgesellschaft und marginalisierten Gruppen. Der zentrale Kunstgriff ist es, diese Geschichte als Liebesgeschichte zu erzählen, wo neben der Spannung zwischen Thema und Medium auch noch alle möglichen Kitsch- und Klischeefallen lauern. Doch auch in diese Fallen tappt das Stück nicht, und genau daraus bezieht es seine stärkste Wirkung. Es verhandelt das Verhältnis von Menschen mit und ohne Behinderung im Kontext einer intimen Beziehung – und damit sieht sich das Publikum hautnah mit der Frage konfrontiert, wie man denn selbst mit einer solchen Situation umgehen würde. Wer würde sich in gesamtgesellschaftlichen Diskursen nicht für Barrierefreiheit und Inklusion stark machen? Aber wie würde man sich im Kontext privater Beziehungen verhalten?

Das Hörspiel wirft solche unbequemen Fragen in formal gelungener Weise auf, und genau deshalb hat es die Jury zum Hörspiel des Monats September 2020 gewählt. Offen bleibt bei aller Empathie des Autors für seine Protagonistinnen die Frage: Wie inkludiert man Gehörlose ins Radiogeschehen? Im Frühjahr plant der ORF eine öffentliche Aufführung des Stücks in der „Radiophonen Werkstatt“ von Regisseur Andreas Jungwirth in der Alten Schmiede in Wien. Dabei wird der Text von Gebärden-Dolmetscher*innen übersetzt. Damit geht der produzierende Sender einen Schritt in die richtige Richtung. Und wirft gleichzeitig weitere wichtige Fragen auf, die zugleich Zukunftsaufgaben in Sachen Inklusion für alle Sendeanstalten sind: Müsste nicht jede Radiosendung in Gebärdensprache übersetzt werden? Oder im Fall von vorproduzierten Formaten wie z.B. Hörspielen als Text-Video mit übertragen werden? Was im Fernsehen längst möglich ist, wäre im Zeitalter des Internet-Radios auch für den Hörfunk technisch kein Problem. Aber auch das muss man sich als Sender erst mal trauen. Der ORF hat einen ersten Schritt getan. Wer geht den nächsten?

Jury und gastgebender Sender 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel August 2020 

Keine Ahnung

von Nele Stuhler

  • Regie: Nele Stuhler

  • Mit: Sophie Rois, Sarah Gailer, Paula Thielecke und der Autorin

  • Künstlerische Mitarbeit: Lisa Schettel

  • Komposition: Laura Eggert

  • Dramaturgie: Julia Gabel und Johann Mittmann

  • Redaktion: Barbara Gerland

  • Produktion: DLF Kultur

  • Länge: 55 ́36‘‘

  • Erstsendung: 06.08.2020

Keine Ahnung Hörprobe

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Foto ©Arda Funda

Die Begründung der Jury 

„Und wie die Welt anders denken, wenn man denkt wie die Welt, wenn man schon immer ein bisschen wird, wie es immer schon war. Sozusagen. Keine Ahnung.“

Kassandra und Sandra, das sind die Protagonistinnen des Hörspiels „Keine Ahnung“. Sie sind auch: zwei entgegengesetzte Denkweisen, Geisteshaltungen und Weltanschauungen. Kassandra ist fürs Verstehen zuständig, Sandra fürs Nicht-Verstehen. Getrieben vom wütenden Wunsch, alles wissen zu wollen, unternehmen die beiden Protagonistinnen den Versuch, die eigene Ahnungslosigkeit nicht als Begrenzung zu sehen, die es zu verstecken gilt, sondern als Grundlage, um der Welt begegnen zu können. „Vorlesungen über das Nichtwissen heißt dieses Unternehmen oder nonepistemische Vorlesungen, also epistemunlogische Vorlesungen sozusagen oder Keine Ahnung-Vorlesungen über die Ahnungslosigkeit.“, so bezeichnet die Erzählerin das wagemutige Experiment. In diesem hinterfragen die beiden Protagonistinnen traditionelle Weltordnungen sowie Formen und Konzepte von Wissensaneignung und -verbreitung. Rasant und mit vielen Wortspielen zerpflücken Sandra und Kassandra den biblischen Schöpfungsmythos, interpretieren die griechische Mythologie neu, führen einen Diskurs über Museumsdidaktik, Autor*innen- und Mutterschaft und stellen am Schluss ein agnostisches Manifest auf. Mit intelligentem Witz schafft es das Hörspiel „Keine Ahnung“, die Balance zwischen Unterhaltung und Erkenntnisstiftung zu wahren.

Das reichhaltige Assoziationsgeflecht berührt eine Vielzahl an Themen, driftet dabei jedoch niemals in die Abstraktion ab, sondern wird durch eine klare Klammer – die des Verstehens bzw. Nicht-Verstehens – zusammengehalten. Bemerkenswert ist, dass Nele Stuhler in den 55 Minuten ihres Hörspiels eine ganz eigene Form feministischer Erkenntniskritik entwickelt. Unter Verwendung literarischer, theoretischer und performativer Ansätze interpretiert und reflektiert das Stück die Themen Wissen und Nicht-Wissen radikal und zeitgemäß aus feministischem Blickwinkel. „Meinen ganzen Feminismus frage ich mich schon, was ich mit dem Steuer mache, wenn ich dran bin“, bemerkt Sandra. Tolle Sprecherinnen – allen voran Sophie Rois als körperlose Museumsstimme – tragen zu der hohen Klangqualität des Hörspiels bei, das immer wieder raffiniert die Möglichkeiten des Mediums auslotet, Fußnoten hörbar macht und Quellen offenlegt. Der Schlussappell, dass sich alle Menschen ihr Nicht-Wissen eingestehen sollten, weil sowieso niemand alles wissen könne, wirkt noch lange nach. Eine kurzweilige, kluge Reflexion über nichts Geringeres als die conditio humana selbst – und über die immerwährende Herausforderung, über ihre Begrenztheit hinauszudenken.

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel Juli 2020 

Güldenes Schwester

von Björn Bicker

  • Realisation: Björn Bicker

  • Komposition: Derya Yildirim

  • Mit: Meriam Abbas, Yodit Tarikwa, Murali Perumal, Christoph Franken, Edmund Telgenkämper, Stefan Merki, Shirin Eissa , Wiebke Puls

  • Redaktion: Katja Huber

  • Produktion: BR

  • Länge: 52 ́03‘‘

  • Erstsendung: 05.07.2020

Güldens Schwester Hörprobe

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Björn Bicker
Foto dpa / Maja Hitij

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Die Begründung der Jury 

„Güldens Schwester“, das ist Fatma Inan. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin des gleichnamigen Hörspiels von Björn Bicker ist Lehrerin.

An ihrer Schule wird sie zur Zeugin, wie ein Junge seinen Mitschüler mit einem Messer tötet. Dieses traumatische Erlebnis bildet den Katalysator für Fatmas inneren Monolog, der – herausragend gesprochen von Meriam Abbas – das Zentrum des Hörstücks bildet. Fatmas Nachdenken über das Attentat ihres Schülers wird zur Reflexion über ihr Selbstverständnis als Lehrerin und ihre eigene migrantisch geprägte Biografie. Eine große Rolle nimmt hierbei die Trauer über den viele Jahre zurückliegenden, in der Familie nie wirklich aufgearbeiteten, Unfalltod ihrer Schwester Gülden und die Erinnerung an ihre Mutter ein.

„Diese Frau, die meine Mutter war, die ist 1978, als sie 20 Jahre alt war, vom Schwarzen Meer nach Deutschland gekommen, weil sie hier meinen Vater geheiratet hat. […] Und meine Mutter hat 40 Jahre in Dortmund gelebt und konnte bis zu ihrem Tod im letzten Jahr so gut wie kein Deutsch.“  

Als Lehrerin arbeitet Fatma in einem im Kontext von Migrationsdebatten besonders umkämpften Feld – dem Bildungssystem. Dennoch beruht die Integrität des Stücks gerade darauf, dass sich die Lehrerin nicht auf ihren Beruf und ihre Herkunft reduzieren lässt. Stattdessen entsteht vor den Ohren der Hörer*innen die facettenreich gezeichnete Figur einer Frau mit klaren Überzeugungen, die insbesondere durch ihre Verletzungen und inneren Brüche glaubwürdig ist. Besonders beeindruckt hat die Jury hierbei die im Hörspiel thematisierte Rolle der Sprache und Kommunikation, wie sie Fatma formuliert:

„Meine Mutter hatte keine Ahnung von dem ganzen Zeug, das mich interessiert: Bücher, Popmusik, Kickboxen, Spanisch, Foodblogs, Reisen. Keinen Schimmer! Aber sie hat mich gefragt. […] Und sie hat die Augen geschlossen und einfach zugehört. Das hat alles auf Türkisch stattgefunden. Diese wundervolle, warme, lustige, bewegliche, türkische Sprache, die mir meine Eltern zu Hause beigebracht haben.“

Kenntnisreich und mit viel Empathie räumt Björn Bicker mit einigen der hartnäckigen Klischees auf, die die weiße Mehrheitsgesellschaft zur Abwehr der realen Diversität der deutschen Gesellschaft aufgebaut hat. Dass etwa auch der Grund dafür, dass Fatmas Mutter nicht Deutsch sprach, in den „kolonialen Mustern deutscher Arbeitsmigrationspolitik“ (Kien Nghi Ha) zu finden ist, in der die heute viel beschworene „Integration“ der „Gastarbeiter“ lange Zeit überhaupt nicht erwünscht war, zeigt das Stück sehr eindrücklich auf. Positiv hervorzuheben ist dabei, dass die Besetzungsliste der Produktion ein deutlich höheres Maß an Diversität aufweist, als es sonst in der deutschen Hörspiellandschaft zu beobachten ist. Das Stück wirkt damit selbst als „affirmative action“ gegen die Missstände, die es auf inhaltlicher Ebene kritisiert. Sein Plädoyer für das große Potenzial von Mehrsprachigkeit setzt das Hörspiel auf dramaturgischer Ebene auch dadurch um, dass es mit der erzählten Rede auf Arabisch noch einer weiteren in Deutschland gesprochenen Sprache Raum gibt.

Die Familiengeschichte und die Biografie von Fatma Inan verbinden in einer literarisch prägnanten Sprache private Trauerarbeit mit der Trauer über ein ums andere Mal verpasste gesellschaftliche Chancen – aber auch mit der heilsamen Wut, die der Anstoß zu Veränderungen sein kann. Beispielhaft ist dafür Fatmas – nun nicht mehr nur innerer! – Monolog, mit dem sie auf die Behauptung einer Kollegin reagiert, dass schulische Leistung und Integrationsfähigkeit zentral davon abhingen, dass im Elternhaus Deutsch gesprochen werde. Und angesichts von Björn Bickers breitem Erfahrungshintergrund mit interkulturellen (Theater-) Projekten darf man getrost davon ausgehen, dass dahinter nicht nur fromme Wünsche, sondern die Beispiele von realen Menschen stehen:

„Liebe Marlies, bei uns zu Hause wurde kein Wort Deutsch gesprochen. Und jetzt sitz ich hier und bin deine Kollegin, eure Kollegin und unterrichte Englisch und Deutsch und Politik auf Deutsch. Und warum hat das alles so gut geklappt? Weil meine Mutter mit mir geredet hat. Weil sie mich geliebt hat! Die Sprache spielt dabei keine Rolle. Es ist egal, was die Kinder zu Hause für eine Sprache sprechen. Entscheidend ist, welche Sprache sie in der Schule sprechen. Ich habe Deutsch im Kindergarten gelernt, mit meinen Brüdern, in der Grundschule, überall, nur nicht zu Hause. Türkisch ist meine Muttersprache, Deutsch ist meine Geschäftssprache. Vielleicht denkst du darüber mal nach, bevor du das nächste Mal so einen Blödsinn verzapfst!“

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel Juni 2020 

Erinnerungen einer Überflüssigen
von Lena Christ

  • Bearbeitung und Regie: Stefanie Ramb

  • Komposition: Evi Keglmaier, Greulix Schrank

  • Mit: Brigitte Hobmeier, Helena Schrei , Sarah Camp, Klaus Stiglmeier, Johanna Bittenbinder, Winfried Frey, Stefan Murr u.a.

  • Redaktion: Katarina Agathos

  • Produktion: BR

  • Länge: Teil 1: 51’16, Teil 2: 51 ́47‘‘

  • Erstsendung: 31.05.und 01.06.2020

Erinnerungen einer Überflüssigen Hörprobe

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Lena Christ (1881-1920) im Alter von 32 Jahren
Foto Münchner Stadtbibliothek Monacensia

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Die Begründung der Jury 

„Das Leben hielt mich fest und suchte mir zu zeigen, dass ich nicht das sei, wofür ich mich so oft gehalten, eine Überflüssige.“

So schreibt die bayerische Schriftstellerin Lena Christ (1881-1920) in ihrem Roman-Debüt „Erinnerungen einer Überflüssigen“ (1912). Mit eindringlicher und direkter Sprache zeichnet sie darin ein Mädchen- und Frauenleben um 1900 im katholischen Bayern auf. Dieses Leben ist geprägt von Gewalt und Armut, denen das Kind und später auch die junge Frau hilflos ausgeliefert ist. Es steht damit im deutlichen Gegensatz zu den schillernden Frauenbiografien der Bohème, hinter denen die Frauenschicksale der Arbeiter*innenschicht und Landbevölkerung oft verblassen oder gar nicht erst zur Sprache kommen. Diese Mädchen- und Frauenschicksale finden nun in der Hörspiel-Neuproduktion „Erinnerungen einer Überflüssigen" eine Stimme.

Die Dramaturgie des Hörspiels vertraut der klaren, plastischen Direktheit von Lena Christs Sprache. Durch den sehr bewussten, nie anbiedernden Einsatz von Mundart und durch die hervorragende Leistung der Sprecher*innen, wie etwa Brigitte Hobmeier als Erzählerin oder Johanna Bittenbinder als Mutter, gelingt es dem Hörspiel, sein Publikum auf akustischem Wege direkt zu erreichen und festzuhalten. Die Geschichte der „Leni“ fasziniert und berührt in ihrer Schlichtheit und Tragik. Schonungslos dokumentiert sie einen Zirkel von Gewalt innerhalb von Familien oder durch Ehepartner, denen viele Kinder und Frauen bis heute ausgeliefert sind. Diese literarische Komponente der Romanvorlage so eindringlich herauszustellen, ist eine große Leistung des Hörspiels.

Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle auch die hohe Qualität der Hörspielmusik von Evi Keglmeier und Greulix Schrank. Sie unterstützt den Inhalt des Textes nicht nur atmosphärisch. Durch das Zitieren und Verfremden von volksmusikalischen Elementen vollzieht sie im Medium Musik das, was das Hörspiel auch auf textlicher Ebene tut: die Austreibung jeder Art von Heimeligkeit aus der „Heimatkunst“, auf die das Schaffen von Lena Christ in der Rezeption allzu oft reduziert wurde.

Das Buch endet mit Christs Emanzipation als Schriftstellerin. Nur acht Jahre später, am 30. Juni 1920, nahm sich Lena Christ mit 38 Jahren das Leben. Durch die Hörspiel-Adaption des Bayerischen Rundfunks wird die Biografie der bedeutenden bayerischen Schriftstellerin anlässlich ihres 100. Todestages wieder greifbar und zugänglich. Nicht zuletzt dies macht die Hörspielproduktion „Erinnerungen einer Überflüssigen“ zum Hörspiel des Monats Juni.

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel Mai 2020 

The Revolution Will Be Injected

von Orlando de Boeykens, Tucké Royale, Hans Unstern

  • Regie und Komposition: Orlando de Boeykens, Tucké Royale, Hans Unstern

  • Dramaturgie: Johann Mittmann und Julia Gabel

  • Produktion: DLF Kultur

  • Länge: 55 ́33‘‘

  • Erstsendung: 14.05.2020

The Revolution Will Be Injected Hörprobe

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Orlando de Boeykens, Tucké Royale und Hans Unstern
Foto Dorothea Tuch

zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF 

Die Begründung der Jury 

„Was für eine Feministin bin ich heute: eine Feministin, abhängig von Testosteron oder ein transgeschlechtlicher Körper von Feminismus abhängig? Ich habe keine Wahl, ich muss meine Klassiker revidieren und meine Theorien diesem Erdbeben des Testosterons aussetzen.“

Orlando de Boeykens, Tucké Royale und Hans Unstern verhandeln in ihrem Hörstück „The Revolution Will Be Injected“ die selbstbestimmte Injektion von Testosteron und die daraufhin langsam einsetzende Transformation von einem weiblichen in einen männlichen Körper. Die Entscheidung zur Einnahme des Hormons führt zu einer umfassenden Erschütterung im Leben der Protagonistinnen: Geschlechterkonzepte, gesellschaftliche Sichtweisen, aber auch die eigene Körperwahrnehmung, Vergangenheit und Identität werden hinterfragt, neu verordnet und definiert. In einer äußerst gelungenen Komposition aus verschiedenen Textsorten wie Packungsbeilagen, persönlichen Erfahrungsberichten, Sachtexten und performativen Elementen begleitet das Hörspiel den Entscheidungsprozess zum Testosteron und führt vor Augen, was eine solche Transformation bedeutet. Eine besondere Leistung der Hörspielproduktion liegt darin, dass die Auswirkungen und Dimensionen der durch Testosteron erzeugten Veränderungen auch für die Hörerinnen nachvollziehbar werden.  Klug und empathisch leistet „The Revolution Will Be Injected“ so einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung über non-binäre Identität und Transgender und damit auch gegen Diskriminierung von Homo-, Bi-, Inter- und Transsexualität. Das macht es zum Hörspiel des Monats Mai!

Die Text- und Soundmontage lässt die Zuhörer*innen in die Gefühlswelt einer Trans-Person eintauchen und berührt dabei ein hochpolitisches und gesellschaftlich relevantes Thema. Durch den Wechsel zwischen deutscher und englischer Sprache, zwischen Sprechtext und Song, findet das Hörspiel auch eine schlüssige Form für den Zustand des „Inbetween“, des Dazwischen-Seins, der die thematische Ebene bestimmt. Sich als non-binär zu identifizieren und in einer binär strukturierten Geschlechterordnung zu bewegen, beinhaltet viele Schwierigkeiten, Diskriminierungserfahrungen und Gefahren. Erst recht, wenn die durch das Testosteron herbeigeführte Veränderung des Phänotyps dazu führt, dass man von der Umwelt zwar als Mann gelesen wird, aber nicht automatisch dem Klischee eines Mannes entsprechen will. Die Packungsbeilage, die vor den Konsequenzen der Einnahme des Hormons für Frauen warnt, da diese bei Doping-Kontrollen positiv getestet werden könnten, ist nur ein Beispiel einer beschränkten Weltsicht, in der die Begriffe von Frau und Mann auf einer chromosomalen Definition beruhen. „Das Labor setzt einen männlichen Nutzer voraus, der auf natürliche Weise nicht ausreichend Androgen produzieren kann und der offenkundig heterosexuell ist", heißt es im Hörspiel.

Mitreißend, klug und witzig erzählt „The Revolution Will Be Injected“ davon, wie es ist, wenn über den Körper eine zweite Pubertät hereinbricht, von der Problematik der Toilettenwahl und gesellschaftlicher Isolation, weil die Community die nicht ungefährliche medizinische Anwendung kritisiert. Neben der Schilderung intensiver körperlicher Erfahrungen eröffnet das Hörspiel u. a. mit Texten bekannter Gendertheoretiker*innen wie Paul B. Preciado einen notwendigen Diskurs über gesellschaftliche Norm und Moral: „Ich verabreiche mir nicht nur das Hormon, das Molekül, sondern ebenso sehr die Idee dieses Hormons: eine Reihe von Zeichen, Texten und Diskursen, den Prozess, durch den das Hormon synthetisiert werden konnte, die technische Sequenz, durch die es sich im Labor materialisiert. Ich injiziere mir eine hydrophob und kristallin karbonisierte Kette von Steroiden und mit ihr ein Stück Geschichte der Moderne“, so Tucké Royal im Stück.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und damit, was diese das eigene Verständnis von Feminismus prägt, verbindet „The Revolution Will Be Injected“ mit dem Werk der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, zu deren 80. Geburtstag zwei Hörspielproduktionen erscheinen. Für eine davon, „Erinnerung eines Mädchens“, in der Hörspielbearbeitung von Irene Schuck produziert vom Südwestrundfunk, spricht die Jury eine lobende Erwähnung und ausdrückliche Hörempfehlung aus. Ernaux schonungslose Sektion der eigenen Biografie führt auf erschütternde Weise auf, wie gesellschaftliche Rollenmuster unser aller Biografien prägen und beschädigen. Und dass wir zwar vielleicht etwas weiter gekommen sind seit 1958, aber nicht annähernd weit genug.

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel April 2020 

Türken, Feuer

von Özlem Özgül Dündar

  • Regie: Claudia Johanna Leist

  • Komposition: Schneider TM (Dirk Dresselhaus)

  • Mit: Lilay Huser, Marina Galic, Kathleen Morgeneyer, Johanna Gastdorf, Ansgar Sauren, Francesco Schramm, Tula Rilinger

  • Dramaturgie: Gerrit Booms

  • Produktion: WDR

  • Länge: 53'28‘‘

  • Erstsendung: 18.04.2020

Türken, Feuer Hörprobe

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Özlem Özgül Dündar
Foto ©Dincer Gücyeter

zum Hörspiel, zur Audiothek der ARD 

Die Begründung der Jury 

Ein Albtraum made in Germany. Sein Drehbuch lautet: Deutsche töten „Andere“ durch Feuer.

„alles hat eine ganz bestimmte stückzahl und meine füße kennen nur noch diesen einen weg mit dieser einen stückzahl und er führt ins feuer“. So spricht eines der Opfer des rassistischen Brandanschlags von Solingen am 29. Mai 1993, die im Hörspiel „türken, feuer“ von Özlem Özgül Dündar eine Stimme bekommen. Es sind ausschließlich Frauen, die sprechen. In einer Sprache, deren poetische Bilder so dosiert und präzise sind, dass sie das Geschehen mit einem Höchstmaß an erschütternder Intensität vergegenwärtigen.

Ein Albtraum made in Germany. Sein Drehbuch lautet: Deutsche töten „Andere“ durch Feuer. 1992 bildeten Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda den Auftakt einer rassistischen Anschlagsreihe in der Bundesrepublik. Jahrzehntelang nährten sie den für den Westen der Republik so bequemen Mythos, rassistische Gewalt sei vor allem ein ostdeutsches Problem. Nahezu völlig aus der kollektiven Erinnerung verdrängt wurden die ersten rassistisch motivierten Brandanschläge in Westdeutschland, in Mölln 1992 und eben in Solingen 1993.

Es ist ein großes Verdienst dieses Hörstücks, dass es dem Vergessen und der Verdrängung dieser Verbrechen entgegentritt. Es legt damit den Finger in die klaffende Wunde des Totalversagens einer Gesellschaft, die die wirklichen „Alarmzeichen“ einer Entwicklung, die bereits vor drei Jahrzehnten begann, bis heute weitestgehend ignoriert oder mindestens grob verharmlost.

Am 29. Mai 1993 zündeten vier junge vier junge Männer deutscher Abstammung in Solingen ein Haus an, in dem mehrere Familien türkischer Abstammung lebten. Fünf Menschen kamen durch den Brandanschlag ums Leben, darunter die 27-jährige Gürsün Inçe. Sie opferte sich für ihre dreijährige Tochter, indem sie mit ihr aus dem Fenster sprang und so fiel, dass das Kind überlebte. Im Hörspiel des Monats April 2020 lässt die Autorin Özlem Özgül Dündar, selbst 1983 in Solingen geboren, unter anderem diese Mutter zu Wort kommen und schildert das schreckliche Ereignis aus ihrer Perspektive. Diese intensive Innenschau der Gedankenwelt hat für die Betroffene den Effekt, dass sie nicht in der passiven Opferrolle verharrt, sondern zur aktiv Handelnden wird: das Erzählen als Selbstermächtigung gegen Vergessen, Rassismus, aber auch stereotype Geschlechterrollen.

Dem herausragenden Sprecherinnen-Ensemble gelingt es unter der Regie von Claudia Johanna Leist und subtil unterstützt durch die atmosphärische Spannung der Musik von Dirk Dresselhaus, den Toten, den traumatisierten Überlebenden, aber auch der Angehörigen eines mutmaßlichen Täters eine Stimme zu geben. In größtmöglicher Dringlichkeit konfrontiert das Hörspiel sein Publikum damit, wie es den Opfern rassistischer Gewalt ergeht. Anstatt jedoch bei sich selbst zu verharren, treten diese unterschiedlichen weiblichen Stimmen miteinander in Dialog und vollziehen so den Perspektivwechsel, der dieses Stück so herausragend macht:

„ich möchte mit dir sprechen ich möchte mit dir sprechen auch wenn ich keine stimme in diesem stück oder irgendeinem stück bekomme auf die straße will ich gehen und mit dir sprechen in einem raum der nicht hier ist in diesem stück wo alle uns hören ich möchte mich mit dir unterhalten mich mit dir austauschen ich möchte mehr reden mit dir mit menschen um mich herum ich möchte eine stimme haben eine stimme in dieser sprache und ich möchte mich mitteilen können meine gedanken aussprechen in der sprache die du verstehst“

Özlem Özgül Dündar belässt es in ihrem Hörspiel nicht dabei, nur den Opfern und somit auch den Frauen eine Stimme zu verleihen, sondern sie fordert zur Auseinandersetzung auch mit unvereinbaren Positionen auf. Eben dieser Perspektivwechsel ist die Grundvoraussetzung für die Überwindung rassistischer Denk- und Handlungsstrukturen. Wegen seiner großen gesellschaftlichen und politischen Dringlichkeit verbindet sich daher mit der Würdigung von „türken, feuer“ als Hörspiel des Monats nicht nur die dringende Empfehlung, dieses Stück zu hören, sondern auch, es in die Lehrpläne deutscher Schulen aufzunehmen.

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel März 2020 

Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein

von Benjamin Maack

  • Regie: Iris Drögekamp

  • Komposition: Nikolai von Sallwitz

  • Mit: Stefan Konarske, Stefan Hunstein, Matthias Leja, Patricia Ziolkowksa, Tanja Schleiff, Bibiana Beglau, Sonja Dengler, Valentin Herre, Oscar Musinowski, Jannek Petri, Heiko Raulin, Bernhard Schütz, Tim Seyfi und Benjamin Maack (Nachwort)

  • Redaktion: Michael Becker

  • Produktion: NDR

  • Länge: 90'

  • Erstsendung: 04.03.2020

Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein Hörprobe

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Benjamin Maack
Foto NDR/Andreas Rehmann

zum Hörspiel, zur Audiothek der ARD 

Die Begründung der Jury 

Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“ schildert schonungslos ehrlich die qualvolle Innensicht einer Depression.

Als er die Psychiatrie betritt, schämt er sich am meisten für seinen großen schwarzen Rollkoffer. „Sollte man nicht in aller Eile, mit einer nachlässig vollgestopften Tasche, und wochenlang nicht gewaschenen Kleidern, ungeduscht und tränenverschmiert in die Klinik kommen?“, fragt sich Benjamin Maack, der Autor und Protagonist des Hörspiels „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“. Er leidet an Depressionen, vor vier Jahren hat er sich schon einmal in dieselbe Klinik einweisen lassen. Maacks Angst davor, den äußeren Erwartungen an einen „richtigen Kranken“ nicht gerecht zu werden, ist so nachvollziehbar wie absurd. In ihr offenbart sich ein großes Tabu unserer leistungsorientierten Gesellschaft, in der es vor allem darum geht, zu funktionieren. Psychische Probleme werden oft nicht als Krankheiten anerkannt. Symptome wie keinen Antrieb zu haben, sind verpönt. Seinen Mitmenschen aufgrund der eigenen Verfassung zur Last zu fallen, ebenso. Selbst die Diagnose Depression schützt den Ich-Erzähler des Hörspiels nicht vor diesem verinnerlichten Leistungsdruck: „Ich bewerbe mich um einen Job als Kranker, obwohl ich weiß, dass ich ihn nicht verdient habe“, heißt es im Hörspiel. Oder: „Ich wünsche mir, ich hätte ein richtiges Problem, aber irgendwie habe ich ein falsches.“ Einprägsame, treffsichere Sätze wie diese weisen auf diesen gesellschaftlichen Missstand hin und machen die eineinhalb Stunden zu einer intensiven, fast schmerzhaften Hörerfahrung.

Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“ schildert schonungslos ehrlich die qualvolle Innensicht einer Depression. Der Protagonist berichtet von seinem ihm aussichtslos erscheinenden Leben, dem Aufenthalt in der „Geschlossenen“, den Nebenwirkungen von Psychopharmaka, vom Schreiben als Instrument des Überlebens.

Das von Iris Drögekamp inszenierte Hörspiel schwankt zwischen Momenten tiefster Verzweiflung, Hoffnung und Panik, enthält aber auch viele tragikomische Szenen, wie etwa die, in der Maack in der Klinik „darauf bedacht ist, nicht zu lächeln und keinen Witz zu machen, weil er Angst hat, rauszufliegen. Obwohl fast ausschließlich der Ich-Erzähler spricht, schöpft das Hörspiel seine klanglichen Möglichkeiten umfassend aus und macht die Depression fühl- und hörbar. Das Sounddesign bringt die Hörer/innen direkt in den Kopf und Körper des Protagonisten.

Maacks dichter, poetischer Text ist kein leicht zu konsumierender Stoff. Die Gedanken seines Hörspiel-Ichs kreisen um Selbsthass, Selbstbestrafung und Schuldgefühle, auch Selbstmordgedanken werden unmissverständlich formuliert: „Das Leben wird zu einer Liste von Erledigungen und der letzte Punkt ist der Tod“, sagt der Protagonist an einer Stelle. Sich mit einem so persönlichen Krankheitsbild vor einer breiten Öffentlichkeit zu outen, ist nicht nur mutig, sondern hat auch eine enorme gesellschaftliche Relevanz: Indem das Hörspiel den Umgang mit Depression thematisiert, wirkt es deren gesellschaftlicher Tabuisierung entgegen. Maack knüpft dabei an die literarische Tradition des Schreibens als Therapie und Selbstermächtigung an, indem er seiner Krankheit seinen Text entgegenstellt: „Als es richtig schlimm wurde, habe ich angefangen zu schreiben. Mit einem Kugelschreiber saß ich auf meinem Krankenhausbett und spie in die Kladde, was in meinem Kopf war, was da tobte, die ganzen Splitter, den ganzen Schrecken.“ Dessen hohe poetische Qualität, die intensive (Klang-) Dramaturgie der Inszenierung, die herausragende Sprecherleistung von Stefan Konarske in der Hauptrolle und das hoch brisante Thema machen „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“ zum Hörspiel des Monats März 2020. 

Triggerwarnung: Wir möchten darauf hinweisen, dass das Hörspiel suizidale Gedanken thematisiert. Menschen, die an Depressionen leiden oder depressive Episoden haben, können dadurch in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge oder bitten Sie Ihre Familienmitglieder oder Freunde um Hilfe. Wie auch der Autor selbst zu Beginn des Hörspiels sagt: Niemand muss und kann alleine mit Depressionen fertig werden!

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel Februar 2020 

Die weite weite Sofalandschaft

von Malte Abraham

  • Regie: Malte Abraham

  • Komposition: Sebastian Jurchen

  • Mit: Esther Hilsemer, Lea Ostrovskiy, Felix Goeser, Michael Hanemann, Nicolas Lehni und Aram Tafreshian

  • Redaktion: Barbara Gerland

  • Produktion: Dlf Kultur

  • Länge: 56'

  • Erstsendung: 05.02.2020

Die weite weite Sofalandschaft Hörprobe

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Arno Zilla liegt seit zwei Wochen in der Badewanne, um dem Homeoffice hinter der Tür zu entgehen.
Foto Theresa Richter /DLF

zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF 

Die Begründung der Jury 

Die Protagonist*innen im Hörspiel „Die weite weite Sofalandschaft“ von Malte Abraham bewegen sich zwischen Arbeit und Urlaub.

„ich habe beim duschen daran gedacht, was zwischen mir und der arbeit liegt,wenn zwischen mir und der arbeit kein weg liegt. ich habe lange nachgedacht. ich habe an nichts gedacht. ich habe an das nichts gedacht, das zwischen mir und der arbeit liegt.“

Die Protagonist*innen im Hörspiel „Die weite weite Sofalandschaft“ von Malte Abraham bewegen sich zwischen Arbeit und Urlaub, wobei ersteres den einzigen Lebensinhalt und Lebenszweck darstellt. Der Ort der Arbeit ist sowohl das Büro als auch das zum „Homeoffice“ umfunktionierte Zuhause. Hierbei verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen privatem und beruflichem Raum wie auch privater und beruflicher Identität, so dass diese letztendlich nicht mehr zu unterscheiden sind und der Protagonist Arno Zilla die Badewanne als seinen letzten privaten Rückzugsort wählt. Seit zwei Wochen liegt er darin, weil hinter der Badezimmertür das Homeoffice lauert.

„von der entgrenzten arbeit in den grenzenlosen urlaub“

Ebenso dystopisch und identitätslos wie der Arbeitsplatz ist auch der Urlaubsort, der weder Stadt noch Land, sondern lediglich ideal temperierte Erholungskulisse mit konstanter und reservierungspflichtiger Meeres-Brandung ist. Kein Wunder also, dass da der patente Geschäftsmann Tom Tropick den Urlaubsort inklusive Sandstrands,

Pazifischem Ozean und konstantem Klima einfach mal in eine große Halle verlagert. Dass es sich bei dieser Halle um das ehemalige Büro des insolvent gegangenen TROPICK Reisebüros handelt und draußen auf dem Meer die ehemaligen Angestellten an Schreibtischplatten geklammert ertrinken, ist nur eine von vielen absurden Details dieser literarisch wie dramaturgisch hervorragend komponierten Radio-Groteske.

Was wie ein abstruser Alptraum anmutet, ist unserer Realität so nah, dass sich beim Hören ein zunehmendes Unbehagen einstellt. Indem die Protagonist*innen des Hörspiels vorführen, wie egozentrisch und zugleich gefangen das westliche Individuum ist, schafft „Die weite weite Sofalandschaft“ ein Plädoyer gegen unser kapitalistisches Wirtschafts- und Wertesystem, das Sinnhaftigkeit und Anerkennung einzig an Erwerbsarbeit koppelt. Auf subtile Weise stellt das Hörspiel dabei einen überraschenden und erhellenden Zusammenhang mit der Klimakrise her: Je überarbeiteter die Gesellschaft, desto dringender ihr Bedürfnis, durch möglichst weite Flugreisen wenigstens kurz der entgrenzten Arbeit zu entgehen.

Das Hörspiel „Die weite weite Sofalandschaft“ öffnet hierbei Räume, die nur innerhalb der Gattung erzeugt werden können – etwa, wenn das Rauschen in der Telefonleitung plötzlich das Rauschen des Ozeans wird – und schöpft so gekonnt die Potenziale der Gattung Hörspiel aus. Das gilt für die Telefonwarteschleife, in der sich die Zuhörer*innen selbst befinden, ebenso wie für den leitmotivischen Einsatz verschiedenartigster Wassergeräusche.

 „wenn das die zukunft ist, werde ich mir sagen, dann will ich daran nicht teilnehmen.“

 In der Gegenwart des Februar 2020 jedoch trägt „Die weite weite Sofalandschaft“ auf hohem literarischem und klangdramaturgischem Niveau einen Beitrag dazu, dass diese Zukunft nicht eintritt. Deshalb spricht ihm die Jury den Titel des Hörspiels des Monats Februar 2020 zu.

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender 2020: Bayerischer Rundfunk

Hörspiel Januar 2020 

Die Toten haben zu tun - اﻟﻣوﺗﻰ ﻣﺷﻐوﻟون

von Mudar Alhaggi und Wael Kadour
aus dem Arabischen von Larissa Bender

  • Regie: Erik Altorfer

  • Komposition: Martin Schütz

  • Mit: Rami Khalaf, Yvon Jansen, Sebastian Rudolph

  • Redaktion: Sabine Küchler

  • Produktion: Dlf

  • Länge: 82'15‘‘ (Zweiteilige Version: Teil 1: 42’33, Teil 2: 41’24)

  • Erstsendung: 18.01.2020

Die Toten haben zu tun Hörprobe

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Foto DLF

zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF 

Die Begründung der Jury 

„Versuch kein Held zu sein, wenn du schwach bist!“ Das ist nur einer der vielen klugen Sätze, die einem aus dem Hörspiel „Die Toten haben zu tun اﻟﻣوﺗﻰ ﻣﺷﻐوﻟون" von Mudar Alhaggi und Wael Kadour im Gedächtnis bleiben.

Das Hörspiel des Monats Januar 2020 verbindet ästhetische Qualität und gesellschaftliche Relevanz auf einem beeindruckend hohen Niveau. Solche multiperspektivischen Stücke basierend auf Erfahrungen möchte man hören!  Das vom Deutschlandfunk produzierte Originalhörspiel, das von Larissa Bender aus dem Arabischen übersetzt wurde, lässt diejenigen selbst zu Wort kommen, die in Deutschland und Europa derzeit meist nur Objekt von Debatten sind: Wie ihr Protagonist Taha leben auch die beiden aus Syrien stammenden Autoren in Berlin und Paris im politischen Exil. Eindringlich und sehr sensibel erzählen sie in ihrem Hörspiel die Geschichte der besonderen Freundschaft zwischen dem Syrer Taha und der Deutschen Mira. Hierbei tritt Mira zunächst als die vermeintlich Starke auf, die dem auf den ersten Blick hilflos erscheinenden Flüchtling hilft. Die Freundschaft entwickelt sich jedoch zunehmend zu einer Beziehung auf Augenhöhe und die anfängliche Rollenverteilung stellt sich als trügerisch heraus.

Taha spricht über die politische Repression in seinem Herkunftsland und seine Trauer über das Scheitern des demokratischen Aufbruchs in der arabischen Welt, an dem er aktiv beteiligt war. Dadurch tritt der Protagonist aus der Rolle des Opfers heraus und begegnet uns als handelndes Subjekt. Beeindruckend ist auch Tahas bei aller Melancholie entwaffnend ironischer Umgang mit der Exilsituation: Er berichtet davon, dass er seine Zeit zwischen Behördengängen und Trauern aufteilen muss, „so dass ich weder aktiv noch depressiv sein konnte ... Ich wurde ein Flüchtling.“ Das Hörspiel thematisiert jedoch nicht nur die Traumata der Überlebenden und deren Schuldgefühle gegenüber den Toten, es hinterfragt auch feinsinnig die Kategorien von Heldentum und Feigheit, Stärke und Schwäche – um nur einige der anspruchsvollen Diskurse zu nennen, die das Stück aufmacht.

Um die traurige und sehr emotionale Geschichte von Taha und Mira zu erzählen, verweben die Autoren Mudar Alhaggi und Wael Kadour unterschiedliche stilistische Formen von Reportage über Tagebuchnotizen bis hin zum Puppentheater, das Taha im libanesischen Flüchtlingslager spielte und aus dem sich im Stück eine „Geschichte in der Geschichte“ ergibt. Dies ist nur ein wunderbares Beispiel für die formalen Qualitäten, die den Text und seine Inszenierung insgesamt auszeichnen. Mit den Sprechern Rami Khalaf, Yvon Jansen und Sebastian Rudolph und unter der Regie von Erik Altorfer entfaltet sich das Stück auf hohem sprecherischem Niveau. Hier ist besonders hervorzuheben, dass auch der arabische Originaltext im Stück hörbar wird. Dies ist ein besonders gelungener Regie-Einfall, da er den im Stück angelegten Perspektivwechsel unterstützt: Für kurze Momente während dieses Hörspiels befindet sich zur Abwechslung einmal das deutschsprachige Radiopublikum in der Situation der Fremdheit und Desorientierung, die für Menschen auf der Flucht zum Alltag gehört. Durch den genau dosierten Einsatz von Stimm-Effekten für jede Szene eröffnet die Regie zudem einen neuen imaginären Raum. Das ermöglicht eine sinnliche Hörerfahrung, ohne in forcierten Realismus zu verfallen. Der leitmotivische Einsatz der von Martin Schütz komponierten Originalmusik sowie die beherzte Verwendung der Stereofonie stellt die Zerrissenheit der Figuren auf plausible, aber dennoch unaufdringliche Weise heraus.

Jury und gastgebender Sender 2020 

Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus, München
Anna Steinbauer, Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin, München
Gerald Fiebig, Audiokünstler, Lyriker und Leiter des Kulturhauses abraxas in Augsburg

Gastgebender Sender: Bayerischer Rundfunk

Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste benennt zum  

Hörspiel des Jahres 2019

GEH DICH DICHTIG!
anarischer Hörspieldialog mit der Wiener Dichterin Elfriede Gerstl
von Ruth Johanna Benrath

  • Regie: Christine Nagel

  • Komposition: Lauren Newton

  • Mit: Lauren Newton, Gerti Drassl, Dörte Lyssewski

  • Produktion: ORF/BR 2019

  • Länge: 42'

  • Erstsendung: 07.04.2019

In „GEH DICHT DICHTIG!“ tritt die in Berlin lebende Autorin Ruth Johanna Benrath in einen fiktiven Dialog mit der von ihr verehrten Wiener Dichterin Elfriede Gerstl (16. Juni 1932 - 9. April 2009). Elfriede Gerstl verfasste Gedichte, Essays, kurze Prosastücke und „Denkkrümel“, wie sie selbst einige ihrer Texte nannte. Sie zählt zu den Größen der österreichischen Literatur nach 1945. Sie stammte aus einer jüdischen Zahnarztfamilie und überlebte die Verfolgung durch die Nationalsozialisten in Verstecken in Wien.

1980 betrachtete Elfriede Gerstl in ihrem Essay "Aus der Not ein Hörspiel machen, zur Not ein Hörspiel hören“ die Chance des Hörspiels im Verursachen von „Denkanstößen“.  Diesen Gedanken nimmt „GEH DICHT DICHTIG! Hörspieldialog mit Elfriede Gerstl“ von Ruth Johanna Benrath auf, indem Benrath aus Anlass von Elfriede Gerstls 10. Todestag auf deren „Denkkrümel“ mit ihren eigenen Texten antwortet. Die akustische Umsetzung bildet den Verlauf dieses Dialogs nach. Aus literarischem Geplänkel erwächst ein Verfahren, in dem Gerstl (Gerti Drassl) und Benrath (Dörte Lyssewski), ihre unterschiedlichen Auffassungen vom literarischen Schreiben aneinander reiben, und schließlich in fantasievollen Sprachwitz überführen. Lauren Newton trägt mit ihren Klangflächen und Sprachspielen diesen Dialog zweier Autorinnen, die sich im realen Leben nie begegnet sind, jedoch auf sprachlicher Ebene einander tief durchdringen.

Ruth Johanna Benrath
Foto Bernd Suchland

Zur Autorin 

Ruth Johanna Benrath, geboren 1966 in Heidelberg, ist Prosa-, Lyrik-, Theater- und Hörspielautorin. 2009 wurde ihr erster Roman Rosa Gott, wir loben dich veröffentlicht, zwei Jahre später Wimpern aus Gras. 2011 erhielt sie den Frau Ava Literaturpreis, 2013 den Preis des Coburger Forums junger Autoren für das Jugendtheaterstück Klassenkämpfe. Für das Kindertheaterstück Der Junge bei den Fischen bekam sie ein Stipendium zum Deutschen Kindertheaterpreis. 2015 erschien das Jugendtheaterstück Frankfurt/Oder, Frankfurt/Main. Ruth Johanna Benrath lebt in Berlin.

GEH DICHT DICHTIG! Hörprobe

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zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Die Begründung der Jury zur Wahl des Hörspiel des Jahres 2019 

In Ergänzung zu ihrer Monatsbegründung schreibt die Jury:
Wenn ein Preis bereits 31 Mal verliehen worden ist, könnte sich beim 32. Mal leicht ein Hauch von Routine einschleichen. Dies ist 2019 beim „Hörspiel des Jahres“ keineswegs der Fall: Erstmals haben am Wettbewerb Einreichungen des ORF und des SRF teilgenommen, und gleich zum ersten Mal geht die Auszeichnung an eine ORF-/BR-Produktion: „Geh dicht dichtig! Hörspieldialog mit Elfriede Gerstl“ von Ruth Johanna Benrath.

Dieser imaginäre Dialog der Wiener Dichterin Elfriede Gerstl (Gerti Drassl) mit der Berliner Autorin Ruth Johanna Benrath (Dörte Lyssewski), der durch Lautimprovisationen der US-amerikanischen Klangkünstlerin Lauren Newton als gleichberechtigter zusätzlicher Stimme trialogisch konzipiert ist, zeigt eine perfekte Melange gestalterischer Parameter: Das Hörspiel präsentiert sich als Wort-, Klang- und Gedankenexperiment und wird durch den anarchischen Umgang mit Sprache und einer selten so gelungenen Rhythmisierung sprachlicher Musikalität zum Unikat, zu einer vor Intensität leuchtenden Hommage an die 2009 verstorbene Elfriede Gerstl.

Wie kein anderes Hörspiel im Jahr 2019 überzeugt die Produktion durch ein mitreißendes Wechselspiel dreier Klangquellen, die im Endprodukt völlig assoziativ entstanden zu sein scheinen. Dieses wechselseitige Durchdringen unterschiedlicher Sprach- und Lautgenres als Ergebnis einer multifunktionalen Kollektivleistung des Produktionsteams unter der beeindruckenden Regie Christine Nagels macht den performativen Charakter von „GEH DICHT DICHTIG!“ aus und das Werk zu einem lautpoetischen Klangkunsthörspiel außergewöhnlicher Art: Sprachklang wird schillernd transportiert, geräuschhafte Strukturen wirken im besten Sinne so integrierend wie irritierend, ihre ausgeklügelte Mischung mit konkreter Sprache schafft Distanz, provoziert und produziert eine mitunter köstlich-absurde Komik. Das Zulassen des Assoziativen evoziert den dadaistischen Effekt des scheinbar Kindlich-Naiven, des bewusst Nicht-Reflektierten. Sprache wird aktiviert, um Sprache um- und aufzuschürfen und ihr neue Lebendigkeit durch die Freude am Wort und am Vokalisieren zu verleihen. Loops, Grooves und variantenreiche Chaosfaktoren in der Textstruktur finden sich sowohl auf sprachlich konzipierter als auch musikalisch improvisierter Ebene. Dies führt zu einer atemberaubend dynamischen Interaktion im fiktiven Dialog. Das virtuose Akustikexperiment „GEH DICHT DICHTIG!“ produziert einen fantasievollen Sprachwitz, der von Literatenkollegen wie Ernst Jandl oder Oskar Pastior inspiriert zu sein scheint, aber in seiner individuellen Ausformung völlig eigenständig dasteht und auf beispielhafte Weise ein Feuerwerk des Auditiven zündet.

Die Begründung der Jury zur Wahl des Hörspiel des Monats April 2019 

Worin liegt der Reiz am literarischen Dialog mit einer sprachmächtigen Autorin? Das Hörspiel „GEH DICHT DICHTIG!“ liefert eine ungewöhnliche Antwort. Konzipiert als Hommage an die 2009 verstorbene Wiener Dichterin Elfriede Gerstl, an deren Werk, vor allem ihren anarchischen Umgang mit Sprache, anlässlich des zehnten Todestages erinnert werden soll, gestaltet es einen imaginären Dialog von Gerstl (gespielt von Gerti Drassl) mit der Autorin Ruth Johanna Benrath (Dörte Lyssewski).

Die Lebendigkeit im fiktiven Dialog, der normalerweise nur live so entstehen könnte, wird wirkmächtig verstärkt durch eine zusätzliche Stimme in Form von Lautimprovisationen der US-amerikanischen Klangkünstlerin Lauren Newton. Diese neue Art eines Trialogs auf verschiedenen Gestaltungsebenen verleiht dem fiktiven Austausch ironischer Textfragmente und Gedankenketten eine besondere Note und große Intensität.

Äußerst gelungen wirkt das Wechselspiel der drei Klangquellen, die im Endprodukt völlig assoziativ entstanden zu sein scheinen. Dieses wechselseitige Durchdringen macht den Reiz von „GEH DICHT DICHTIG!“ aus. Auf diese Weise entsteht ein lautpoetisches Klangkunsthörspiel außergewöhnlicher Art: Der Klang der Sprache wird schillernd transportiert, die Geräusche irritieren im besten Sinne, die Mischung mit konkreter Sprache schafft Distanz und provoziert zugleich beim Zuhören. Das Zulassen des Assoziativen evoziert den dadaistischen Effekt des scheinbar Kindlich-Naiven, des bewusst Nicht-Reflektierten. Sprache wird gebraucht, um Sprache um- und aufzuschürfen und ihr eine neue Lebendigkeit durch die Freude am Wort und am Vokalisieren zu verleihen. Das anarchistische Zulassen von Sprachexperiment und fantasievollem Sprachwitz führt bei Ruth Johanna Benraths Hörspiel zu einem Feuerwerk der Töne: Wie sich Sätze und Worte auflösen, löst sich am Ende des sprachmusikalischen Hörspiels auch das Spiel der beiden Autorinnen auf.

Jury und gastgebender Sender 2019 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Eine von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste eingesetzte Jury wählt Monat für Monat aus den ARD-, ORF- und SRF-Ursendungen die nach ihrer Meinung beste Produktion. Aus 12 „Hörspielen des Monats“ wählt die gleiche Jury das „Hörspiel des Jahres“.

Hörspiel des Monats Dezember 2019 

Woyzeck

von Georg Büchner

  • Bearbeitung, Regie, Sounddesign und Technik: Stefan Weber

  • Komposition: Emile Waldteufel / Franz von Suppé, bearbeitet von Stefan Weber

  • Mit: Markus Meyer, Katrin Thurm, Matthias F. Stein, Wolfgang Hübsch, Matthias Mamedof

  • Produktion: ORF

  • Länge: 56‘12“

  • Erstsendung: 21.12.2019

Woyzeck Hörprobe

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Markus Meyer (vorne), Stefan Weber (hinten)
Foto Joseph Schimmer / ORF

Begründung der Jury

Das Hörspiel „Woyzeck“ (Autorenproduktion im Auftrag des ORF, 2019) nach dem gleichnamigen Theaterstück von Georg Büchner beeindruckt im besonderen Maße als hoch konzentriertes und zur Konzentration zwingendes Kunstwerk. Dieses außerordentlich intensive Gestaltungsprinzip, ermöglicht durch die herausragende Leistung der Schauspieler (u. a. Markus Meyer als „Woyzeck“, Matthias F. Stein als „Hauptmann“ und Katrin Thurm als „Marie“), fesselt vom Anfang bis zum Ende der Produktion. Wenngleich es für das „Woyzeck“-Fragment bereits zahlreiche (Hör-)Inszenierungen gibt, überzeugt die von Stefan Weber verantwortete Dramatisierung durch einen originellen Umgang mit dem Stoff: Vom konsequenten Missbrauch einer deformierten Kreatur bis zum affektgesteuerten Mord am Ende einer Gewaltspirale ermöglicht das Hörspiel einen bewegend-empathischen Mitvollzug von Woyzecks Demontage bis hin zu seiner emotionalen Zerrüttung. Die nicht nachlassende Wirkung des Werks basiert auf einer Inszenierung, die auf allen Ebenen minimalistisch mit Feinschattierungen und Laut-Leise-Brüchen operiert. Webers Produktion ist reduziert, aber in ihrer Gestaltung höchst effektiv und gerade dadurch umso eindringlicher und wirkmächtiger. Die emotionalen Ausnahmezustände eines empfindsamen Menschen, dem das Menschsein unmöglich gemacht wird, erscheinen so für die Hörenden schmerzvoll nachfühlbar.

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung spricht die Jury für das Hörspiel "Zornfried" (WDR 2019) von Jörg-Uwe Albig aus. Die scharfe Satire auf das Faszinations- und Verstörungspotenzial der Neuen Rechten arbeitet mit vehementen inszenatorischen Mitteln, v. a. mit beeindruckenden Rezitationen technisch hervorragend nachkomponierter Lyrik im Stefan George-Stil als Mittel der sezierenden Ideologiekritik und handlungslenkenden Strukturierung. Entlarvend, burlesk, mahnend!

Jury und gastgebender Sender  

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Hörspiel November 2019 

Teure Schwalben
von Irmgard Maenner

  • Regie: Heike Tauch

  • Komposition: Janko Hanushevsky

  • Mit: Irm Hermann, Julika Jenkins, Veronika Bachfischer, Sascha Nathan, Florian Lukas, Friedhelm Ptok, Markus Gertken, Judith Engel, Shelly Kupferberg

  • Redaktion: Stefanie Hoster

  • Produktion: DLF Kultur

  • Länge: 56‘21“

  • Erstsendung: 20.11.2019

Teure Schwalben Hörprobe

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Irm Hermann
Foto Sil Egger / Deutschlandradio

Begründung der Jury

Das Hörspiel „Teure Schwalben“ (Dlf Kultur 2019) von Irmgard Maenner gestaltet die Geschichte der letzten Lebensphase einer 80 Jahre alten, an Demenz erkrankten Frau auf höchst innovative Weise: die allmählichen Wandlungsprozesse, den schleichenden Verfall an Bewusstheit und die einerseits ängstlichen, bisweilen aber auch humorvoll-offenen, ja affirmativ wirkenden Reaktionen der Umgebung auf diese Entwicklungen. Dem hält das Hörspiel – vorrangig dank der herausragenden Schauspielerin Irm Hermann – Facetten von Komik und Humor entgegen: Gesellschaftliche Normen und Schranken fallen als Folge von Krankheit und Pflegeheimeinweisung, dabei verwischen die Grenzen der Konventionen. Mit Bewunderung verfolgt man die spitzbübischen Eskapaden und makabren Geschehnisse um Heimflucht und Zaunüberwindung, die zeigen, dass Demenz einen fast bewundernswerten Fantasieraum eröffnen kann.

Unter der Regie von Heike Tauch beschreibt dieses Hörspiel die Neudefinition des Seins infolge einer Erkrankung, angereichert durch klug montierte Erinnerungsfragmente und neu servierte Kindheitserinnerungen. Herausragend wirken die inszenatorischen Gestaltungsmittel, Musik und Sounds sind in der Komposition von Janko Hanushevsky prägnant, sparsam und zugleich effektiv eingesetzt. Die Darstellungsweise von „Teure Schwalben“ setzt dem „Honig im Kopf“ die „flatternden Schwalben“ so kunstvoll dargeboten entgegen, dass die eskapistischen Ebenen der Demenz nahezu positiv konnotiert wirken. Bis hin zu den neologistisch anmutenden „Hutschwalben“ als Fantasiereservoir inszeniert Heike Tauch einen ästhetisch höchsten Kunstgenuss: Der Transfer von Erlebtem zu willkürlich Fantasiertem im Kopf der Hauptfigur ist großartig in Szene gesetzt.

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung spricht die Jury für das Hörspiel „Wild ist scheu“ (SWR 2019) von Karen Köhler aus. Durch den Tod des Partners aus allen Lebensbezügen herausgefallen, zieht sich eine Frau (beeindruckend gespielt von Leonie Benesch) in die Waldeinsamkeit zurück. Die Trauer der Hauptfigur wird durch starke Naturmetaphern und die Zivilisationsflucht in den Wald als mythologischem Ort empathisch spürbar, nicht zuletzt dank des berührenden, poetisch-zarten Textes.

Jury und gastgebender Sender 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Hörspiel des Monats Oktober 2019 

Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus
von Christine Lavant

  • Bearbeitung und Regie: Peter Rosmanith

  • Komposition: Franz Hautzinger, Matthias Loibner und Peter Rosmanith

  • Mit: Gerti Drassl

  • Produktion: Autorenproduktion im Auftrag des ORF

  • Länge: 53‘01“

  • Erstsendung: 05.10.2019

Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus Hörprobe

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Gerti Drassl
Foto Yasmina Haddad

Die Begründung der Jury 

Peter Rosmaniths Hörspielfassung von Christine Lavants „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ (ORF 2019) besitzt die Intensität eines Kammerspiels in besonderem Maße: Es inszeniert die subjektiv verstörende Perspektive einer suizidgefährdeten Zwanzigjährigen auf den stationären Aufenthalt in der „Landesirrenanstalt Klagenfurt“ Mitte der 1930er Jahre. Zugleich dokumentiert bereits der poetisch-metaphorische Ausgangstext von Lavant die bedrückende Atmosphäre in einer der Psychiatrien, die später institutionell an der Vorbereitung der Euthanasie-Gräuel beteiligt waren.

Konzentriert auf die Sicht der Insassin einer Kranken- und Heilanstalt erzählt dieses Hörspiel auch von deren manischer Verliebtheit, die durch das Abhängigkeitsverhältnis vom ärztlichen Therapeuten einen Missbrauch forciert. Diese komplexe Geschichte wird stimmlich geradezu hypnotisierend umgesetzt von der mehrfach ausgezeichneten Südtiroler Schauspielerin Gerti Drassl. Die nüchterne, hierarchisch organisierte Zwangsexistenz, explizit die Unterdrückungsmechanismen in einer psychiatrischen Verwahranstalt, werden durch die Kraft der Poesie im Kontrast zur scharfen Situationsanalyse artikuliert. Hin- und hergerissen zwischen Lavants Gefahr der Selbstauflösung und ihrem Versuch, sich aus dem Tunnel des inneren Schreckens zu befreien, hinterlässt das Hörspiel ein geradezu erschütterndes Stimmungsbild. Verstärkt wird dieses zum empathischen Hören einladende Setting durch die gegenseitige Durchdringung der Text- und Musik-Bereiche (Instant Composings / „Improvisationen aus dem Augenblick heraus“). Dadurch wird die Atmosphäre der Bedrohung, Demütigung und existentiellen Verunsicherung der Protagonistin beispielhaft inszeniert. Text und Musik (von Franz Hautzinger, Matthias Loibner und Peter Rosmanith) begegnen sich auf dieser Ebene völlig gleichberechtigt.

Jury und gastgebender Sender 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Hörspiel des Monats September 2019 

Baader Panik

von Oliver Kluck

  • Regie: Leonhard Koppelmann

  • Komposition: zeitblom

  • Mit: Jan Bluthardt, Katharina-Marie Schubert, William Cohn, Wolfgang Pregler u. v. a.

  • Dramaturgie: Andrea Oetzmann

  • Produktion: SWR

  • Länge: 81’19‘‘

  • Erstsendung: 29.09.2019

Baader Panik Hörprobe

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Oliver Kluck
Foto Anne Krausz / Deutschlandradio

zum Hörspiel, zur Audiothek des SWR 

Begründung der Jury

Was passiert eigentlich in Deutschlands ICE-Trieb-Köpfen? Müssen preiswürdige Hörspielmacher dort ihr Dasein fristen, um für außergewöhnliche Produktionen Stoff zu sammeln? Oliver Klucks „Baader Panik“ (SWR 2019) gibt die kompromisslose Antwort: Ja!

Kluck, von der Erstausbildung Lokführer, provoziert und irritiert als Hörspiel- und Theatermacher: Wie die ICEs der Deutschen Bahn gefühlt niemals pünktlich sind, verweigert seine Hörgroteske jegliche rationale Einordnung. Er beschießt sprunghaft, situativ, improvisierend, respektlos und beißend sein einstiges Berufsfeld mit skurrilen Metaphern über die Dinge des außerfahrplanmäßigen Lebens, die den absurden Alltag sprichwörtlich auf das Abstellgleis rangieren und die Hörer aus der Bahn werfen – oder besser: aus der Lebensbahn provozieren!

Gestützt auf einen hohen Anteil an scharfer Satire bis hin zum Absurden, die auch vor Gerhart Hauptmanns tropfender Leiche nicht Halt macht, stehen in „Baader Panik“ keinerlei Signale auf Rot: Nein, freie Fahrt für die unflätige Humoreske bzw. den pubertären Humor. Dieses dreiste Spiel mit der Postdramatik überzeugt genauso wie die heillos verschachtelten Sätze, die etwa das logische Potenzial von Telefonansagen ad absurdum führen – Sequenzen zum Lachen oder zum Fürchten oder gar zum Spaßgruseln? Das Spiel mit den Metaebenen erinnert an das Warten im finsteren Bahntunnel – oder an Platons Höhlengleichnis, lange bevor die Selbstentfesselung beginnt.

Faktenwissen ist absolut überflüssig, die Sammlung hochamüsanter Fake-News schmeckt so süffig wie der überraschend köstliche Milchkaffee im Bordbistro bei leckeren 250 Stundenkilometern. Oliver Klucks „Baader Panik“ ist eine Satire auf höchstem Niveau, die Snobismus mit Borniertheitskritik paart und damit ein Symbol für die Verunsicherung der Postmoderne ist.

Jury und gastgebender Sender 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

In Stanniolpapier
nach einer wahren Begebenheit
von Björn SC Deigner

  • Regie: Luise Voigt

  • Komposition: Friederike Bernhard

  • Mit: Josefin Platt

  • Redaktion: Manfred Hess

  • Produktion: SWR

  • Länge: 50'37‘‘

  • Erstsendung: 18.08.2019

In Stanniolpapier Hörprobe

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Björn SC Deigner
Foto privat

zum Hörspiel, zur Audiothek der ARD 

Begründung der Jury 

Björn SC Deigner liefert mit seinem unkonventionellen Hörspiel „In Stanniolpapier“ (SWR 2019) eine quälend einprägsame Milieustudie, beruhend auf einer realen Begebenheit.
Er stellt das Leben der Prostituierten Maria (gespielt von Josefin Platt) als biographische Negativspirale dar. In extrem verstörender Weise fokussiert das Hörspiel mit hoher Intensität Sequenzen eines Lebens im freien Fall zwischen Ausbeutung und Selbstausbeutung vor dem Hintergrund roher Gewalt im Rotlichtmilieu. Selbst in Extremmomenten auf dem Straßenstrich suggeriert Maria einen pragmatischen Optimismus ohne Aussteigervisionen, indem sie paradoxerweise das Leben zwischen bürgerlichem Schein und nächtlichem Sein zu akzeptieren und für gut zu befinden scheint.
Die selektive Selbstwahrnehmung der Protagonistin reicht bis zur Auslöschung ihres Anspruchs auf Selbststimmung durch Unterwerfung unter den Willen ihres Zuhälters. Dies wird durch die beeindruckende schauspielerische Leistung von Josefin Platt zum eindringlich-bedrückenden Hörerlebnis: Das Hörspiel bestürzt, irritiert, rüttelt auf.

Die Regieleistung von Luise Voigt ermöglicht einen Eindruck von der ‚Herzenskühle‘ Marias zwischen Schutzmechanismus und Abstumpfung durch den Wechsel der Inszenierungsebenen: Relativ neutrales Erzählen wandelt sich ins Sprechen realer Szenen aus dem Alltag der Prostitution und mündet durch kurze Soundtransitions fließend im Modus des uneigentlichen Sprechens in kaltes, fast emotionsloses Kommentieren des bislang Erlebten.
Höchst beeindruckend ist die konzentrierte Souveränität, mit der die einzige Sprecherin der Produktion, Josefin Platt, Mitglied des „Berliner Ensembles“, diese Ebenen zusammenführt und zwischen verschiedenen Rollen wechselt.
„In Stanniolpapier“ bietet – unterstützt durch Momente inszenierter Stille – die Chance zur Reflexion über die Prostitution als dem „ältesten Gewerbe der Welt“. Ein Hörspiel, das im Gedächtnis bleibt.

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung spricht die Jury für das Hörspiel „Remainder“ (NDR 2019) von Tom McCarthy aus. Der skurrile Plot – und die damit verbundene Inszenierung eines markanten Lebensmoments – versucht, diesen erlebten Ausschnitt in verschiedenen Reminiszenzen und in immer wieder neuer Weise zu prolongieren: Beeindruckend durch ein variables Setting, das die Produktion zu einem abwechslungsreichen Erlebnis werden lässt.

Jury und gastgebender Sender 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Hörspiel des Monats Juli 2019

Die Anhörerin
von Andreas Unger

  • Regie: Teresa Hoerl

  • Komposition: Matthias Hauck, Nepomuk Heller

  • Mit: Susanne Schroeder, Heinz Josef Braun, Markus Böker

  • Redaktion: Christine Grimm

  • Produktion: BR

  • Länge: 36'03‘‘

  • Erstsendung: 21.07.2019

Die Anhörerin Hörprobe

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Andreas Unger
Foto Kathrin Harms

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Die Begründung der Jury 

Das Hörspiel „Die Anhörerin“ (BR 2019, Autor: Andreas Unger) nimmt sich eines schwierigen Themenkomplexes in einer sehr kompakten Form an: In 36 Minuten Laufzeit werden grundsätzliche Fragen zu Themen wie Recht auf Asyl, Umgang mit Asylbewerbern sowie Wirkmächtigkeit der Funktion des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufgeworfen.

Den narrativen Rahmen des Hörspiels bildet ein fiktives Entscheidungsverfahren innerhalb des BAMF, durchgeführt von der noch unerfahrenen Sachbearbeiterin Anne Schaller (gespielt von Susanne Schroeder), die vom Erstberuf der Schauspielerin in ein finanziell besser abgesichertes Berufsfeld gewechselt ist.

Das Hörspiel arbeitet zur Steigerung der Authentizität mit Zitationen bürokratisch entseelter Amtssprache, besonders durch Einsatz von Termini wie „Aufenthaltsstatus“, „subsidiärer Schutz“ oder „Ausreisehinderungsgrund“, was schnell kafkaeske Assoziationen hervorruft: Regelmäßig wiederkehrende, nüchterne Diktat-Szenen stellen die Macht der Bürokratie symbolisch dar, vor allem deren Fühllosigkeit und kalte Rationalität im Umgang mit menschlichen Schicksalen. Das Stilmittel des permanenten Wechsels von Innensicht der Hauptfigur, scheindokumentarischen Asylanhörungsszenen sowie privaten Disputen (mit plakativem Austausch von Stereotypen) verleiht dem Hörspiel spürbare Dynamik, Multiperspektivität und Eindringlichkeit, deren Ausgestaltung aber durchaus detaillierter und weniger episodenhaft sein könnte, um der Problematik, respektive Diffizilität des Themas noch gerechter zu werden.

„Die Anhörerin“ zeigt exemplarisch das Leiden der Entscheiderin Anne Schaller am System des Aussortierens, an ihrer Platzierung auf der Schnittstelle zwischen Ankommen und Ablehnen. Empfindungen des Ausgeliefertseins werden mehr und mehr deutlich – sowohl bei den Asylbewerbern als auch bei der Entscheiderin. Ein Hörspiel, das nachdenklich stimmt und zur kritischen Reflexion über die Macht von Menschen über Menschen einlädt…

Jury und gastgebender Sender 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

90° 0‘ 0‘‘ S
von Maren Kames
mit Texten aus ihrem Gedichtband ,Halb Taube Halb Pfau‘

  • Regie und Musik:  Milena Kipfmüller und Claus Janek

  • Mit: Thomas Bading, Marina Frenk und Thorsten Schlopsnis

  • Dramaturgie: Manfred Hess

  • Produktion: Autor-/innenproduktion für den/mit dem SWR 2019

  • Länge: 51'34‘‘

  • Erstsendung: 27.06.2019

90° 0‘ 0‘‘ S Hörprobe

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Maren Kames
Foto Mathias Bothor

Begründung der Jury 

Emotionalisierend, melangierend, introspektiv – das Hörspiel "90° 0‘ 0‘‘ S" überrascht durch ungewöhnliche Produktionsbedingungen und ragt mit seiner gelungenen Mischung von Klang, Text und Musik heraus. In experimenteller Weise durchdringen sich diese Darstellungsgenres auf kunstvolle Weise.
Das Hörspiel schildert eine fiktive Reise zur Antarktis, in die Kälte, Einsamkeit und Weite; eine Reise, die einer freiwilligen Selbstentäußerung gleich kommt. Die drei Künstler Maren Kames (Autorin), Milena Kipfmüller (Regisseurin) und Claus Janek (Komponist) erhielten mit Unterstützung des SWR-Realisationsteams die Möglichkeit in einer abgeschlossenen Produktionsatmosphäre in gleichberechtigter Arbeitsweise eine außergewöhnliche Kunstform zu schaffen. Herausragende Verfremdungseffekte, das Changieren verschiedener Ebenen, insbesondere auch auf einer künstlerischen Metaebene, fördern eine neue, inspirierende Sicht auf die Welten. Wichtige Komponenten von Maren Kames‘ Inszenierungsmethode – sich fremd machen, den Blick weit stellen, die Dinge neu wahrnehmen – führen dazu, dass Hörerinnen und Hörer neugierig in die Erzählung eintauchen, sich ihr bedingungslos ausliefern und schließlich distanzlos in ihr aufgehen. Ein elementarer Baustein dabei ist Maren Kames‘ Aufsehen erregender Gedichtband "Halb Taube Halb Pfau".
"90° 0‘ 0‘‘ S" bewegt sich in einem unabgeschlossen Zeitfluss, zwischen dem  lyrischen Ich und konkreten geografischen Orten. Es entwickelt eine enorme Spannweite und  evoziert bizarre Ideen und spontane Assoziationen, die eine konventionelle Handlung überflüssig  zu machen scheinen. Das Hörspiel lässt den Sätzen Raum zu wirken und pendelt so zwischen der Weite der erzählten Kopf-Landschaft und den unwirtlichen Bedingungen der realen Antarktis –  schmale, scharfe Grenzen in unwägbarem Weiß. Es arbeitet mit ungewöhnlichen, poetischen  Metaphern: Momente in fein ziselierter Sprache, genaue Beobachtungen von authentischen  Begebenheiten in der südpolaren Fremde. Eindringliche Motive von Einsamkeit und Kälte lassen  sich hier erstaunlicherweise als Möglichkeit von Freiheit verstehen.  Claus Janeks Soundscapes, Klangstrukturen und Imitationen menschlicher Lautäußerung  verstärken die lyrische Ebene des Stücks. Seine Klangpoesie tritt manchmal schillernd in den  Vordergrund, um sich dann aber sofort wieder unterzuordnen und den Fluss des Hörspiels mittels  ihrer hochartifiziellen Eigenständigkeit wirkungsvoll zu unterstützen. Janeks Kompositionen  zeichnen sich aus durch originelle Klangästhetik und dichte Atmosphärengestaltung,  Eigenschaften, die das Hörspiel auch ohne direktes Verstehen der Worte zu einem spannenden  Erlebnis werden lassen.

Jury und gastgebender Sender 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Hörspiel des Monats Mai 2019 

Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz

Aus den Protokollen des Parlamentarischen Rates 1948 - 49
Dokumentarische Serie um die Entstehung des Grundgesetzes vor 70 Jahren
Mit Texten von Terézia Mora, Özlem Özgül Dündar, Georg M. Oswald, Frank Witzel

  • Bearbeitung: Phillip Stegers und Benjamin Quabeck

  • Regie: Annette Kurth, Petra Feldhoff, Claudia Johanna Leist, Thomas Leutzbach, Benjamin Quabeck

  • Dramaturgie: Martina Müller-Wallraf und Hannah Georgi

  • Teil 1 – Berufung auf Gott / 27‘44‘‘

  • Teil 2 – Parlament und Volksentscheid / 28‘06‘‘

  • Teil 3 – Männer und Frauen / 27‘58‘‘

  • Teil 4 – Die Rechte unehelicher Kinder / 27‘44‘‘

  • Teil 5 – Die Würde des Menschen ist unantastbar / 28‘25‘‘

  • Teil 6 – Eine Zensur findet nicht statt / 27‘25‘‘

  • Teil 7 – Deutschland in Europa / 26‘42‘‘

  • Teil 8 – Das Wahlrecht / 28‘19‘‘

  • Produktion: WDR/DLF/BR 2019 für die Hörspielprogramme der ARD

  • Erstsendung: 22.05. – 25.05.019

Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz Hörprobe

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zur Hörspiel-Serie, zur Audiothek der ARD 

Begründung der Jury 

Von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes lernen? Dieses schwierige Unterfangen gelingt dem dokumentarisch-erzählerischen Hörspiel in beeindruckender Weise. Gestaltet als Mehrteiler in acht Folgen, verknüpft es zwei Ebenen: wortgetreue Transkriptionen der Beratungsgespräche und literarisch-künstlerische Texte heutiger Autorinnen und -autoren wie Terézia Mora, Georg M. Oswald, Özlem Özgül Dündar und Frank Witzel. „Guter Rat“ präsentiert auf diese Weise acht Perspektiven auf die Gegenwartsbedeutung der damaligen Leistung: „Berufung auf Gott“, „Parlament und Volksentscheid“, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, „Die Rechte unehelicher Kinder“, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, „Eine Zensur findet nicht statt“, „Deutschland in Europa“ und „Das Wahlrecht“.

Die Serie zeigt, wie hart das Ringen um Verfassungsbegriffe wie „Einigkeit“, „Recht“ und „Demokratie“ war – eine bleibende Mahnung für die heutige Zeit. Hierbei werden Sätze, Begriffe und Aussagen des Grundgesetztextes auf all ihre Schattierungen und ihren tiefsten Sinngehalt hin abgeklopft. Berückend ist die Mischung von Originaltönen mit musikalischen Untermalungen, den aktuellen Gegenwartsstimmen und den nachgesprochenen Sequenzen. So entsteht keine ermüdende Geschichtsstunde, sondern sowohl ästhetisch als auch informativ gewinnbringende Unterhaltung. Selbst Menschen, für die eine Beschäftigung mit diesem Material nicht alltäglich ist, werden „Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz. Aus den Protokollen des Parlamentarischen Rates 1948-49“ als spannend und unterhaltsam empfinden. Demokratiebildung im besten Sinne: eindringlich, elegant und ausgesprochen gut inszeniert.

Erkennbar basierend auf intensiven Auswertungen der erhaltenen Protokollbände des Parlamentarischen Rats ist ein großartiges historisches Dokumentarstück entstanden, das zugleich auch als ein wichtiges Gegenwartshörspiel die Lebendigkeit der Texte und Inhalte des Grundgesetzes nachdrücklich zu Ohren und vor Augen führt. Es pointiert die Rolle der damaligen Akteure durch originale Tondokumente im Wechsel mit inszenierten Szenen, gesprochen von heutigen Schauspielern, um die Erinnerung an komplexe Entscheidungsprozesse bewahren zu können. Verantwortet von den fünf Regisseurinnen und Regisseuren Annette Kurth, Petra Feldhoff, Claudia Johanna Leist, Thomas Leutzbach und Benjamin Quabeck überzeugt „Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz“ zum 70. Jubiläum durch eine geschickte Auswahl der historischen Textdokumente und eine erstaunlich abwechslungsreich gefärbte Inszenierung.

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung spricht die Jury für Esther Kinskys erstes Originalhörspiel „Stein, Stiel, Schlehe“ (BR 2019) aus, das die kristalline Schönheit von Sprache mit großer Bedachtsamkeit und kreativer Intensität in Bezug zu Naturthemen und ihren immerwährenden Wandlungs- und Verfallsprozessen setzt.

Jury und gastgebender Sender 2019 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Hörspiel des Monats April 2019 

GEH DICH DICHTIG!
anarischer Hörspieldialog mit der Wiener Dichterin Elfriede Gerstl
von Ruth Johanna Benrath

  • Regie: Christine Nagel

  • Komposition: Lauren Newton

  • Mit: Lauren Newton, Gerti Drassl, Dörte Lyssewski

  • Produktion: ORF/BR 2019

  • Länge: 42'

  • Erstsendung: 07.04.2019

GEH DICH DICHTIG! Hörprobe

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Gerti Dassel und Lauren Newton
Foto ORF / Ursula Hummel-Berger

zum Hörspiel, zur Audiothek des BR 

Begründung der Jury 

Worin liegt der Reiz am literarischen Dialog mit einer sprachmächtigen Autorin? Das Hörspiel „GEH DICHT DICHTIG!“ liefert eine ungewöhnliche Antwort. Konzipiert als Hommage an die 2009 verstorbene Wiener Dichterin Elfriede Gerstl, an deren Werk, vor allem ihren anarchischen Umgang mit Sprache, anlässlich des zehnten Todestages erinnert werden soll, gestaltet es einen imaginären Dialog von Gerstl (gespielt von Gerti Drassl) mit der Autorin Ruth Johanna Benrath (Dörte Lyssewski).

Die Lebendigkeit im fiktiven Dialog, der normalerweise nur live so entstehen könnte, wird wirkmächtig verstärkt durch eine zusätzliche Stimme in Form von Lautimprovisationen der US-amerikanischen Klangkünstlerin Lauren Newton. Diese neue Art eines Trialogs auf verschiedenen Gestaltungsebenen verleiht dem fiktiven Austausch ironischer Textfragmente und Gedankenketten eine besondere Note und große Intensität.

Äußerst gelungen wirkt das Wechselspiel der drei Klangquellen, die im Endprodukt völlig assoziativ entstanden zu sein scheinen. Dieses wechselseitige Durchdringen macht den Reiz von „GEH DICHT DICHTIG!“ aus. Auf diese Weise entsteht ein lautpoetisches Klangkunsthörspiel außergewöhnlicher Art: Der Klang der Sprache wird schillernd transportiert, die Geräusche irritieren im besten Sinne, die Mischung mit konkreter Sprache schafft Distanz und provoziert zugleich beim Zuhören. Das Zulassen des Assoziativen evoziert den dadaistischen Effekt des scheinbar Kindlich-Naiven, des bewusst Nicht-Reflektierten. Sprache wird gebraucht, um Sprache um- und aufzuschürfen und ihr eine neue Lebendigkeit durch die Freude am Wort und am Vokalisieren zu verleihen. Das anarchistische Zulassen von Sprachexperiment und fantasievollem Sprachwitz führt bei Ruth Johanna Benraths Hörspiel zu einem Feuerwerk der Töne: Wie sich Sätze und Worte auflösen, löst sich am Ende des sprachmusikalischen Hörspiels auch das Spiel der beiden Autorinnen auf.

Jury und gastgebender Sender 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

HAFEN
von Mishka Lavigne
Übersetzung von Frank Weigand

  • Regie: Anouschka Trocker

  • Musik: Bo Wiget

  • Mit: Tanja Schleiff und Nico Holonics

  • Redaktion: Anette Kührmeyer

  • Produktion: SR/DLF Kultur 2019

  • Länge: 85'59‘‘

  • Erstsendung: 10.03.2019

Hafen Hörprobe

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Tanja Schleiff und Nico Holonics
Foto Saarländisches Staatstheater/Andrea Kremper

zum Hörspiel, zur Audiothek des Deutschlandradio 

Begründung der Jury 

Das Hörspiel „Hafen“ von Mishka Lavigne (SR/Deutschlandfunk Kultur, Regie: Anouschka Trocker), ins Deutsche übersetzt aus dem kanadischen Französisch von Frank Weigand, schildert in ironisch-lakonischer Sprache einen dramatischen Bewältigungs- und Selbstfindungsprozess zweier Protagonisten: Elsies Versuch, den tödlichen Autounfall ihrer berühmten (Schriftsteller-) Mutter zu bewältigen, und Matts Streben danach, sich seiner Herkunft aus Bosnien zu vergewissern. Die perfekt ineinander verschränkten Parallelgeschichten (vor allem das scheinbar zufällige Aufeinandertreffen von Matt und Elsie) mit Sarajevo als Referenzpunkt bzw. Motiv erzählen von unbewältigten Verlusterfahrungen und der tastenden Suche nach einer Zukunftsperspektive.

Metaphorisch geschickt inszeniert die Autorin diesen Prozess über das surreale Mittel eines Kraters, der sich unvermittelt in Elsies Straße aufgetan hat. Das intelligent konstruierte Hörspiel überzeugt durch eine Sprache, die bei aller Dramatik stets unprätentiös-realitätsnah bleibt und deren Inszenierung oft mit Gegenschnittvarianten arbeitet: figurales Ich, Dialoge, Off-Kommentare, Spiel mit Hintergrundgeräuschen zur Verdopplung, harte Gegenschnitte zur Verstärkung von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die musikalischen Interpunktionen von Bo Wiget beeindrucken einerseits durch ihre idiomatische Selbstständigkeit und unterstützen anderseits die Erzählhandlung in markanter Weise.
Die herausragende schauspielerische Qualität der beiden Sprecher hebt zudem dieses Hörspiel auf ein außerordentlich hohes Niveau.

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung spricht die Jury aus für das beeindruckend gestaltete Hörspiel „Bilder deiner großen Liebe“ (Produktion: Bayerischer Rundfunk / Realisation: Sebastian Stern) nach dem gleichnamigen, posthum veröffentlichten Roman Wolfgang Herrndorfs. Die dichte Atmosphäre vermittelt den Roadmovie-Eindruck eindringlich und authentisch, besonders durch die herausragende schauspielerische Leistung von Enea Boschen.

 

Jury und gastgebender Sender 2019 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Hörspiel des Monats Februar 2019 

Der letzte Schnee
von Arno Camenisch

  • Regie: Geri Dillier

  • Komposition: Jul Dillier

  • Mit: Ueli Jäggi und Stefan Kurt

  • Produktion: SRF

  • Länge: 49'09‘‘

  • Erstsendung: 15.02.2019

Der letzte Schnee Hörprobe

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Ueli Jäggi, Stephan Kurt, Geri Dillier und Arno Camenisch
Foto SRF

Die Begründung der Jury 

In der Hörspielbearbeitung seines Romans „Der letzte Schnee“ beschreibt Arno Camenisch die Zwiegespräche der beiden Besitzer eines betagten Skischlepplifts, Paul und Georg, in der Einsamkeit des Bündnerlands in den Schweizer Alpen. Es sind die Zeiten des Klimawechsels, des immer öfter ausbleibenden Schnees, noch hat die Saison nicht wirklich begonnen.

In den Dialogen, oft aber auch Monologen der beiden alten Hüter ihres Skischlepplifts entfaltet Arno Camenisch mit „Der letzte Schnee“ ein Endzeitstück, das niemals schwarzmalend daherkommt, sondern die Protagonisten immer in freundlicher, fast melancholischer Erwartung des Endes ihrer Bestimmung und damit auch der Schnee- und Skitradition ihres Bündner Landes beschreibt.

Camenisch nutzt den Kreislauf des endlos abspulenden Skilifts als Definitionsbereich für die Lebensläufe, als Metapher für die mäandernden Erfüllungswege und Erwartungen der beiden Protagonisten: ein trauerndes, aber nie deprimiertes Abschiednehmen vom geregelten Zieleinlauf ihrer Pläne, ihrer Illusionen, ein sich Erfreuen am Leben mit dem Ende vor Augen.

Mit den anekdotenreichen, zart ironischen Gesprächen der beiden Alten schafft Arno Camenisch ein fast meditatives Werk voller blitzend-lebenskluger Einsichten der beiden alpinen Philosophen - grandios gespielt von Ueli Jäggi und Stefan Kurt - und ihrem weiten, weisen Blick von ganz oben in die Täler der Realität. In sprachlich überaus poetischer Diktion bietet Camenisch über die Sicht seiner beiden knorrigen Protagonisten den Versuch einer Versöhnung mit den Veränderungen der Zukunft an. Die Musik von Jul Dillier unterstützt mit großartigen, äußerst einfachen, aber extrem wirksamen Statements eines einsamen Akkordeons die Melancholie des Textes, bleibt dabei aber immer der literarischen Struktur verpflichtet. Auch die Schlusssequenz von Arno Camenischs Hörspiel „Der letzte Schnee“ klingt nach dem ersten erschrockenen Wahrnehmen fast wie eine freundliche Tröstung: „Man will sich gar nicht ausmalen, was der Herrgott im Himmel als Nächstes bereithält. Wenn es hochkommt, beginnt er vermutlich noch, die Berge ins Tal zu stürzen und macht uns alle zu Staub.“ - „Der Tod kuriert uns vom Leben.“ - „Und wir stehen hier wie zwei Pajasse, parat für die nächsten fünfzig Jahre, was für ein komisches Los wir da gezogen haben.“ - „Da käme man glatt auf die Idee, zu den Narren zu halten - anstatt zu den Heiligen.“

Jury und gastgebender Sender 2019 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Hörspiel des Monats Januar 2019 

AUDIO.SPACE.MACHINE
Ein Bauhaus-Konzeptalbum

von wittmann/zeitblom

  • Regie und Komposition: wittmann/zeitblom

  • Mit: Albrecht Schuch, Alice Dwyer, Bernhard Schütz, Elias Falk, Jacqueline Macaulay, Lars Rudolph, Leslie Malton, Paul Herwig. Sabin Tambrea, Christian Wittmann

  • Gesang: Maria Goja, Gemma Ray und Christian Wittmann, Schlagzeug: Achim Färber, Bassklarinette: Falk Breitkreuz

  • Dramaturgie und Redaktion: Sabine Küchler

  • Produktion: DLF/NDR/SWR in Zusammenarbeit mit IMF

  • Länge: 60'09‘‘

  • Erstsendung: 12.01.2019

AUDIO.SPACE.MACHINE Hörprobe

/

Gemman Ray
Foto Christian Wittmann

zum Hörspiel, zur Audiothek des DLF 

Begründung der Jury 

100 Jahre Bauhaus in Weimar – nur ein historisches Datum?

Das Autorenduo wittmann/zeitblom widerspricht. In ihrem Hörspiel Audio.Space.Machine mit dem Untertitel „Bauhaus-Konzeptalbum“ unterziehen die Autoren die Idee des Konzepts „Bauhaus“ einer radikalen Reflexion: In achtzehn Modulen und Fragestellungen entfalten wittmann/zeitblom die Vielschichtigkeit des „Bauhaus“-Stils und derjenigen Gegensatzpaare, für die er scheinbar bis heute steht: „Simplicity versus Complexity“, „Reduktion versus Abstraktion“, „Luxusbedarf versus Volksbedarf“, „Hat Kunst eine politische Dimension?“. Die Autoren stellen dabei die Frage: Was bedeutet „Bauhaus“ gerade in unserer heutigen digitalen Welt für die Individualität des Menschen? Über eine anregende Balance zwischen O-Tönen, rhythmisierten, grooveanimierten Textstrecken, Soundscapes, und erstaunlich experimentellen Spielelementen reflektieren wittmann/zeitblom die Ideologie des „Bauhaus“ in einer beeindruckend variablen Fülle der eingesetzten akustischen Mittel. In genussvoll-kulinarischen Sequenzen werden die ZuhörerInnen in das widersprüchliche Verhältnis zwischen Funktionalität und Individualität hineingezogen – durchaus auch mit dem wirksamen Mittel der Ironie.

Über die Methode einer künstlerischen Dialektik erreicht das Hörspiel auf diese Weise bei seinem Publikum eine neue, sich immer wieder selbst erneuernde Betrachtungsweise des Phänomens „Bauhaus“. „Audio.Space.Machine“ würdigt das Projekt „Bauhaus“ in dessen Jubiläumsjahr als Hörspiel in Form einer überaus lebendigen Klangarchitektur und bereitet damit große Lust, sich in dessen Komplexität zu vertiefen.

Lobende Erwähnung 

Die Jury spricht eine lobende Erwähnung für das Hörspiel „Der Reisende“ (NDR/ Bearbeitung und Regie Irene Schuck) nach dem gleichnamigen Roman von Ulrich Alexander Boschwitz aus: über hervorragende sprecherische Leistungen und in einer wirkungsvollen Balance zwischen Sprache und unterstützender akustischer Musik ermöglicht das Hörspiel einen Einblick in den beklemmenden Alltag der NS-Diktatur.

Jury und gastgebender Sender 2019 

Ruth Rousselange, Autorin und freie Kritikerin
Prof. Georg Ruby, Musiker und Professor für Jazz an der Hochschule für Musik des Saarlandes
Dr. Torsten Mergen, Germanist und Fachdidaktiker mit Schwerpunkt Hörspiel

Gastgebender Sender 2019: Saarländischer Rundfunk

Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste benennt zum  

Hörspiel des Jahres 2018

Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen
von Susann Maria Hempel

  • Musik & Regie: Susann Maria Hempel

  • Mit: Susann Maria Hempel

  • Redaktion: Mareike Maage

  • Produktion: rbb

  • Länge: 54’31

  • Ursendung: 28.11. 2018

Das Radiostück basiert auf Gesprächen mit einem ehemaligen DDR-Häftling, der im Gefängnis einen schweren Schock mit darauffolgender Amnesie erlitt. Als vermeintlichem Republikflüchtling wurde ihm ein „Grenzproblem“ übergestülpt, das nicht seins war. Und dann hat er eine Grenzerfahrung ganz anderer Art gemacht: Im Gefängnis sei die Seele aus ihm „rausgemacht“, sagt er. Und sie ist bis heute nicht heimgekehrt in ihr Gefäß. Er denkt sie sich dennoch gut aufgehoben - dort nämlich, wo ihm immer am wohlsten war: im Wald. Als sein ältester Freund starb, beginnt der Häftling, der Autorin von seinem Leben zu erzählen. Sie wird auf die tiefe Verbundenheit aufmerksam, die beide zum Wald hatten. Ihr ganz eigener, in der Kindheit wurzelnder Mythos des Waldes wurde mit dem Tod des Freundes wieder lebendig.

Susann Maria Hempel
Foto Samuel Henne

Zur Autorin 

Susann Maria Hempel wurde 1983 im thüringischen Greiz geboren. Mit 16 Jahren brach sie die Schule ab und wirkte als Musikerin, Schauspielerin und künstlerische Mitarbeiterin im Performance- und Künstlerkollektiv „Theaterhaus Weimar“. 2001 bis 2009 studierte sie Mediengestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar mit Schwerpunkt Kurz- und Experimentalfilm. Als Stipendiatin der Thüringer Kulturstiftung erhielt sie 2012 das „cast&cut“-Kurzfilmstipendium in Hannover. Heute gehört sie zu den erfolgreichsten  Experimentalfilmerinnen Deutschlands. Mit ihrem 18-minütigen Animationsfilm "Sieben Mal am Tag beklagen wir unser Los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen" gewann sie sieben Preise im In- und Ausland, unter ihnen „Der Deutsche Kurzfilmpreis“ im Jahr 2014 und im Frühjahr 2015 den Grand Prix des Clermont-Ferrand Short Film Festivals, Frankreich. Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen ist ihr zweites Hörspiel.

Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen Hörprobe

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Die Begründung der Jury zur Wahl des Hörspiel des Jahres 2018 

In Ergänzung zu ihrer Monatsbegründung schreibt die Jury:
Ein ‚Hörspiel des Monats‘ weist sich für die Jury als hervorstechendste Sendung unter sieben bis zehn qualitativ oft recht unterschiedlichen Einreichungen des jeweiligen Monats aus. Das ‚Hörspiel des Jahres‘ hingegen muss sich gegen elf ähnlich herausragende Sendungen behaupten können – inhaltlich, formal und künstlerisch. „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ von Susann Maria Hempel tut dies so souverän, dass man nur schwer glauben kann, dass es sich hierbei erst um die zweite Hörfunkarbeit der jungen Autorin, Komponistin, Sängerin, Regisseurin und - hervorragenden! - einzigen Sprecherin dieses radiophonen Gesamtkunstwerks handelt. Performativ erzählend, zeichnet Hempel ihre Gespräche mit einem durch seine Haft in der ehemaligen DDR schwer traumatisierten Menschen nach: Der Schock der unrechtmäßigen Inhaftierung selbst als vermeintlicher Republikflüchtling, aber auch die Misshandlung durch Mitgefangene,  haben ihn soweit aus der Bahn geworfen, dass ihm nicht mehr gelingt, seinen Alltag zu organisieren, wichtige Entscheidungen zu fällen, sich einer Fremdbestimmung zu widersetzen, oder auch nur diese Unfähigkeit anderen gegenüber zu verbalisieren, als mit seiner Gesprächspartnerin:

„Danke Susann. Danke dass ich darüber reden konnte jetze“, mit diesen Worten dringlich gesprochen und in thüringischer Sprachfärbung, beginnt das Hörstück. „Das konnt' ich jetzt wirklich bloß mit dir.“ Hempel lässt uns die große Intimität dieser Unterhaltung miterleben, ohne ihre Vertraulichkeit zu verraten. Es geht um die Auflösung des Ich und den Versuch seiner Rekonstruktion: „Ich hab keine Erinnerung mehr an mich. Wenn ich mich aber unterhalt', jetzt so mit dir jetze, dann kann ichs geistig zurückholen.“ Der Weg dorthin führt, es ist eine deutsche Geschichte, in den Wald der Kindheit, eine Art Privatmythos, den sich der Erzähler mit seinem Freund geschaffen hat, dessen kürzlicher Tod als Auslöser des Bekenntnisses angedeutet wird. Durch kompositorisch reduzierte und elektronisch entfremdete hochromantische Liedsätze, Schumanns Eichendorff- und Heine-Vertonungen, durchbrochen von digitalem Vogelgezwitscher, Rotkehlchen und Zilpzalp, erschafft Hempel in und um diese Erzählung eine Atmosphäre, in der das, was wir Seele nennen, nahezu greifbar, ihre Verletzungen erfahrbar, und die Metaphern die ihrer Beschreibung dienen sollen, wirklich werden: Erfahrbar nur durch den intimen Sinn des Gehörs, schrecklich und schön. 

Dem RBB ist es zu danken, dass hier eine Hör-Spiel-Macherin zu Wort kommen konnte,  deren  künstlerische Kraft ganz sicher noch weitere wichtige Impulse für die Hörspielgestaltung setzen wird. „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ wurde von uns in einhelliger Begeisterung zum Hörspiel des Jahres 2018 gekürt.

Die Begründung der Jury zur Wahl des Hörspiel des Monats November 2018 

Es fällt schwer, zu glauben, dass „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ erst Suann Maria Hempels zweite Radioarbeit sein soll, so souverän hat die Autorin, Komponistin, Sängerin, Regisseurin, und einzige Sprecherin dieses Kunstwerk gestaltet. Sie spricht darin die Unterhaltung mit einem durch seine Haft in der ehemaligen DDR schwer traumatisierten Menschen nach: Der Schock der unrechtmäßigen Inhaftierung selbst als vermeintlicher Republikflüchtling, aber auch die Misshandlung durch Mitgefangene und die Angst vor ihr haben ihn so weit aus der Bahn geworfen, dass ihm nicht mehr gelingt, seinen Alltag zu organisieren, wichtige Entscheidungen zu fällen, sich einer Fremdbestimmung zu widersetzen, oder auch nur diese Unfähigkeit anderen gegenüber zu verbalisieren, als mit seiner Gesprächspartnerin. „Dangge Susann, Dangge dass ich dadrüber redn konnte, jetze,“, mit diesen Worten, leicht gehetzt in thüringischer Sprachfärbung gesprochen, beginnt das Hörstück. „das konnt ich jetze eigntlich wörklich bloß mit Dir.“ Hempel lässt in ihrer monologischen Wiederholung dieses Dialogs die Zuhörenden dessen große Intimität miterleben, ohne seine Vertraulichkeit zu verraten. Es geht um die Auflösung des Ich und den Versuch seiner Rekonstruktion: „Ich hab keine Erinnerung mehr an mich. Wenn ich mich aber unterhalt', jetzt so mit dir jetze, dann kann ichs geistig zurückholen.“ Der Weg dorthin führt, es ist eine deutsche Geschichte, in den Wald der Kindheit, eine Art Privatmythos, den sich der Erzähler mit seinem Freund geschaffen hat, dessen kürzlicher Tod als Auslöser des Bekenntnisses angedeutet wird. Durch kompositorisch reduzierte und elektronisch entfremdete hochromantische Liedsätze, Schumanns Eichendorff- und Heine-Vertonungen, durchbrochen von digitalem Vogelgezwitscher, Rotkehlchen und Zilpzalp, erschafft Hempel in und um diese Erzählung eine Atmosphäre, in der das, was wir Seele nennen, nahezu greifbar, ihre Verletzungen erfahrbar, und die Metaphern die ihrer Beschreibung dienen sollen, wirklich werden: Erfahrbar nur durch den intimen Sinn des Gehörs, schrecklich und schön. Selbstverständlich ist dieses vom RBB als Feature gesendete Werk Susann Maria Hempels das Hörspiel des Monats November.

Jury und gastgebender Sender 2018 

Viktorie Knotková, Dramaturgin Schauspiel Bremen
Regine Beyer, Radioautorin und -regisseurin
Benno Schirrmeister, Journalist, die taz

Gastgebender Sender 2018: Radio Bremen

Eine von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste eingesetzte Jury wählt Monat für Monat aus den ARD-Ursendungen die nach ihrer Meinung beste Produktion. Aus 12 „Hörspielen des Monats“ wählt die gleiche Jury dann das „Hörspiel des Jahres“.

Hörspiel des Monats August 2018 

Des Teufels langer Atem
4-teiliges Hörspiel
von Robert Weber

  • Regie: Annette Kurth

  • Mit: Wanja Mues. Cathlen Gawlich, Reiner Schöne, Norman Matt, Heikko Deutschmann, Santiago Ziesmer, Friedhelm Ptok, Stefan Kaminski, Sascha Nathan
    Barnaby Metschurat, Udo Schenk, u.a.

  • Dranaturgie: Natalie Szallies

  • Produktion: WDR

  • Erstsendung: 27.-30.08.2018

  • Länge: 27‘47“; 28‘59‘‘; 26‘59‘‘; 27‘38‘‘

Des Teufels langer Atem Hörprobe

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Wanja Mues

Begründung der Jury 

Robert Weber hat sich zu einem Meister von Krimifolgen entwickelt, in der sich Realität und Fiktion durchdringen, zum Beispiel in „Die Infektion“ (WDR, 2010-16) unter der Regie von Annette Kurth. In „Des Teufels Langer Atem“, wiederum vom WDR und von Annette Kurth inszeniert, vermischen sich zudem Krimi- und Horrorgenre, Realität und Popkultur auf schier unheimliche Weise. In vier Teilen, in sich abgeschlossen jedoch aufeinander bezogen, jagt die Agentin Clarice Sterling – bekannt als Ermittlerin in dem Film Das Schweigen der Lämmer - einen Serienkiller durch die Vereinigten Staaten der Gegenwart und nahen Vergangenheit. Ihr Gegenspieler Louis Cyphre (korrekt ausgesprochen: Luzifer) ist ebenfalls eine Filmfigur, aus Angel Heart von Alan Parker. Die Zeichen stecken also bereits im Namen, niemand jedoch erkennt sie, weil die Menschheit nicht mehr an den Teufel glaubt, vielleicht weil sie ihn nicht braucht: Das Unmenschliche gehört seit jeher zum Menschen, die dem Satan an Hass und Vernichtungswillen in nichts nachsteht. Eine ausgelassene Freude an bösen Einfällen, in einer schier überbordenden Montage aus Kolportage- und Märchen-Elementen, unglaublichen, aber realen Figuren wie dem Kartenkünstler Dai Vernon und popkulturellen wie literarischen Motiven von Lewis über Hauff bis Twain oder Borges wird zum spektakulären Kopfkino dank einer meisterlichen Gemeinschaftsleistung im Zusammenspiel mit Annette Kurths fantasievoller Regie, wandlungsfähigen Sprechern, dem Ton (Jonas Bergler) und vor allem auch klugem Einsatz einer vielseitigen Musik , die durch alle Folgen der Serie hindurch eine wunderbar expressive und sensible zweite Erzählspur legt.

Lobende Erwähnung 

Die Jury spricht eine lobende Erwähnung im Sinne eines zweiten Preises aus für „Die Traumnovelle“ des BR in der Bearbeitung und Regie von Katja Langebach. Eine fesselnde Hörspielumsetzung der vielschichtigen Beziehungsnovelle Arthur Schnitzlers,  die mit überzeugender Natürlichkeit auch einen Raum für zeitgenössische Stimmen zum Thema Bindung, Liebe und Leidenschaft schafft.

Jury und gastgebender Sender 2018 

Viktorie Knotková, Dramaturgin Schauspiel Bremen
Regine Beyer, Radioautorin und -regisseurin
Benno Schirrmeister, Journalist, die taz

Gastgebender Sender: Radio Bremen

Hörspiel des Monats Juli 2018 

Das Notizbuch vom Kiefernwald
von Francis Ponge
aus dem Französischen von Peter Handke

  • Bearbeitung & Regie: Ulrich Lampen

  • Mit: Sylvester Groth

  • Komposition: Jakob Diehl

  • Dramaturgie & Redaktion: Peter Liermann

  • Produktion: HR

  • Erstsendung: 22.07.2018

  • Länge: 49‘10“

Das Notizbuch vom Kiefernwald Hörprobe

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Ulrich Lampen und Sylvester Groth
Foto - Ben Knabe, HR

Begründung der Jury 

Ulrich Lampen hat ein Antihörspiel geschrieben. Seine radiophone Anverwandlung von Ponges „Das Notizbuch vom Kiefernwald" in der Übersetzung Peter Handkes entspricht in ihrer spröden Verweigerung erzählerischer oder auch akustischer Kulinarik auf überraschende Weise der asketisch-meditativen Besinnung Ponges auf das Objekt selbst, auf das Rohe an ihm, auf das, was es unterscheidet von dem was der Dichter über es geschrieben hat: Es ist die Schrift, die sich vom Objekt entfernt, die Literarisierung, die der französische Dichter damit im Schreiben selbst kritisiert. Und wie ein Gelübde klingt es, wenn er gleich eingangs verspricht, keinesfalls „das Objekt meiner Wissbegier keinem Vorzeigen irgendeines gelegentlichen Wortfunds zu opfern, auch nicht dem Arrangieren einiger solcher Funde zu einem Poem“. Dem entspricht Lampen durch eine Rücknahme alles Inszenatorischen: So scheint er nur diejenigen der Regieanweisungen, die er seinem Libretto mitgegeben hat, zu befolgen, hält er sich streng nur an jene, die einen Verzicht fordern: „wir brauchen keine virtuose Musik“. Es gibt ein paar Fauré-Akkorde. Es gibt ein wenig atmosphärisches Rauschen. Der Rest ist Sprache - im Raum gesprochen, glasklar intoniert von Sylvester Groth. Sperrig und faszinierend hört sich Ponges Dichtung, die gar nicht auf die Performance, die Phoné setzt, in Ulrich Lampens Arbeit an. Zwar gibt es einen Ursprung in der symbolistischen Dichtung - „die Pinien Ponges wurzeln bei Claudel“, schreibt Daniel Rondeau, aber eine symbolistische Deutung verbietet sich und das Vorhaben geht über den Hoffmannsthalschen Sprachekel weit hinaus: Möglicherweise lässt sich eine Verwandtschaft der Intention mit den Kritiken totalitärer Sprache bei Orwell, Huxley, Klemperer andeuten – bei gleichzeitig radikal eigenständigem, ganz anderem und poetologisch sehr tief begründeten Ansatz.

Lobende Erwähnung 

Die Jury spricht eine lobende Anerkennung im Sinne eines zweiten Preises aus für Soeren Voimas Hörstück „Ruf der Wildnis“/ NDR. Sie hebt besonders die gekonnt rhythmisierte Vortragsweise Nico Holonics hervor, die - unterstütz durch spannungsgeladene Komposition mit Benjo-Akkorden des Musikers Andreas Bick - den kapitalismuskritischen Abenteuerroman von Jack London als Versepos gesprochene Unterhaltung für die ganze Familie präsentiert.

Die Jury und der gastgebende Sender 

Viktorie Knotková, Dramaturgin Schauspiel Bremen
Regine Beyer, Radioautorin und -regisseurin
Benno Schirrmeister, Journalist, die taz

Gastgebender Sender: Radio Bremen

MEINE ERINNERUNGEN REISSEN MICH IN STÜCKE
Frei nach Motiven aus Mary Shelleys biografischen Notizen
von Cristin König

  • Regie: Cristin König

  • Komposition: Friederike Bernhardt

  • Mit: Julika Jenkins, Patrick Güldenberg, Veronika Bachfischer, Trystan Pütter, Sebastian Schwarz, Steven Scharf, Max Urlacher

  • Redaktion: Ulrike Brinkmann

  • Produktion: Deutschlandfunk Kultur

  • Länge: 69’24‘‘

  • Erstsendung: 03.06.2018

Meine Erinnerungen reißen mich in Stücke Hörprobe

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Die Autorin und Regisseurin Cristin König
Foto Anke Beims, Dlf Kultur

Begründung der Jury 

Das Monster spricht. Schauspieler Steven Scharf verleiht ihm die schmeichelnde Stimme eines Liebhabers, der sich sicher ist, dass aller vorgetragener Widerstand gegen ihn nur pro forma geleistet wird. Weil die Bindung zu seiner Schöpferin ewig währt: „ich bin aus deiner Seele rausgesprungen,“ erinnert es Mary Shelley gleich im Prolog von Cristin Königs Hörspiel „Meine Erinnerungen reißen mich in Stücke...“. Und als sich die früh gealterte Shelley, gespielt von Julika Jenkins, ziert und der Ehre der Autorschaft widersetzen will, beharrt das Monster, aufdringlich, penetrant, unwiderstehlich: „deine Seele hast du mir eingehaucht“. Nein, aus dieser süßen Gefangenschaft wird es seine Schöpferin eben so wenig entlassen, wie es ihr die Frage beantwortet, warum alle tot sind: ihr geliebter Percy, Lord Byron, John Polidori, die ganze Gesellschaft, aus deren Gesprächen in der Villa Coligny am Genfer See, Frankenstein entstanden war, in jener Nacht im Sommer 1816....
„Meine Erinnerungen reißen mich in Stücke..." ist Hörspiel des Monats Juni. Auf packende und zugleich hochliterarische Weise spürt Autorin König damit - in mokanter Umkehr einer trivialen biographistischen Herangehensweise - dem Einfluss des Werks aufs Leben der Autorin nach, und weckt deren Erinnerung mittels einer faszinierenden Montage aus Bonmots, Gewaltfantasien, Zitaten und Gedichtauszügen der teuren Toten, ganz wie Shelleys Romanheld sein Geschöpf aus Leichenteilen zusammenfügt. Durch realistische Geräusche (Flügelschlagen, Donner, Kaminknistern) entstehen Klanglandschaften, die sich, dank Friederike Bernhardts diskreter Kunst mal unterlegt, mal durchkreuzt von artifiziellen atmosphärischen Sounds, von Cellospiel und elektronisch bearbeiteten Gesängen in Gedächtnis- und Seelenräume verwandeln, durchweht von subtilem Grauen. Dieser Umgang mit literarisch-kulturellem Erbe und seiner Last musealisiert es nicht, sondern belebt es geradezu unheimlich und fesselt die Hörer.

Lobende Erwähnung 

Necati Öziris Heimatgeschichte „Get deutsch or die tryin'“ (Regie Volkan T Error/ WDR) erhält eine lobende Erwähnung im Sinne eines zweiten Preises. Sie erzählt mit stark Hiphopgeprägter Ästhetik von einem jungen Mann der sogenannten dritten türkischen Einwanderergeneration, Arda Yilmaz, der sonst mit seiner Gang rumhängt, aber seinen 18. Geburtstag auf dem Ausländeramt verbringt, um sich einbürgern zu lassen in die deutsche Gesellschaft, die Migration wie eine Erbkrankheit behandelt: Verletzlich, rabiat und direkt wie eine Lifeschaltung ins Ghetto ohne Schutzfilter, sozialpädagogische Herablassung oder Klassenhass von einem Ensemble gesprochen, das nicht nur so tut, als wüsste es Bescheid.

Jury und gastgebender Sender 2018 

Viktorie Knotková, Dramaturgin Schauspiel Bremen
Regine Beyer, Radioautorin und -regisseurin
Benno Schirrmeister, Journalist, die taz

Gastgebender Sender: Radio Bremen

Hörspiel des Monats Mai 2018 

We love Israel
Ein Serial in 7 Folgen oder 2 Teilen
von Noam Brusilovsky und Ofer Waldman

  • Regie: Noam Brusilovsky

  • Komposition: Tobias Purfürst / Yair Elazar Glotman

  • Mit: Stephan Wolf-Schoenburg, Orit Nahimas, Jerry Hoffman, Anna Stieblich, Aviva Joel, Dor Aloni, Tobias Herzberg, Jeff Willbusch u.a. Sowie Martin Niemöller, Marlene Dietrich und weiteren Originaltonstimmen aus Deutschland und Israel

  • Redaktion und Dramaturgie: Manfred Hess

  • Produktion: SWR

  • Erstsendung: Teil 1 (Folge I – IV), 17.5.2018, Teil 2 (Folge V – VII), 24.5.2018

  • Länge: 53’08‘‘ / 53’22‘‘

We love Israel Hörprobe

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Ofer Waldman (links) und Noam Brusilovsky am Gay Beach von Tel Aviv
Foto SWR/Ofer Waldman

Begründung der Jury 

In smarter Gestaltungsökonomie kommen die beiden in Israel geborenen Autoren Noam Brusilovsky und Ofer Waldman in „We love Israel“ umgehend zur Sache: Auf die Frage einer geschauspielerten Beamtin der Passkontrolle, warum sie nach Israel fliegen wollen, antworten echte deutsche Passiere, darunter ein Pfarrer und ein Generalleutnant der Bundeswehr a.D.,  im Originalton. Damit ist klar, dass in diesem Podcast-Serial die beiden Ebenen von Fiktionalem und Dokumentarischem intensiv  ineinander geblendet und nicht nur Staatsgrenzen reflektiert werden. Als HörerInnen sind wir bereits auf den nachfolgenden Dialog  im Regiestudio eingestimmt, wo ein Autor den anderen bittet, ‚podcast‘ zu definieren: „So eine moderne Online Geschichte, irgendwas zwischen Feature und Hörspiel. Komisches Wort, aber bitte, hier spreche ich also ein podcast.“  So spielerisch-offen wie diese Erläuterung ist auch die Form der Serie „We love Israel“, in der es aus Anlass des 70. Jahrestages des britischen Mandatsendes über Palästina und der Gründung des Staates Israel, um die zentrale Frage geht, wie sich die Liebe von Deutschen zu Israel und die von Israelis zu den Deutschen  darstellen kann. Da werden in sieben kurzen Folgen so schwergewichtige Themen wie Schuld und Sühne erfrischend respektlos und zugleich gedankenreich behandelt. In der zweiten Episode beispielweise steht die  Erinnerungskultur von Via Dolorosa und Yad Vashem im Fokus, und das Geschäft mit Tränen ist ein Aspekt dabei: „Ich wasche meine Hände in deutschen Tränen“, sagt ein Reiseführer, „alles vermischt sich, Opfertränen, Tätertränen … Danach gibt es einen freien Tag, shoppen und so.“  Am Schwulenstrand von Tel Aviv hingegen geht es urkomisch um Sprache (bedeutet der Name Feigele wirklich Vögelchen oder leitet er sich von fabulous oder faggot ab?) und die deutsche Sehnsucht nach dunkelhaarig und muskelbepackt statt  blond und schmal.

Unter rasanten Perspektivewechseln und  im Durcheinandergehen von Spiel- und Bedeutungsebenen wird klar, dass die ‚Liebe‘ zu Israel sehr unterschiedliche Formen annimmt. Und dass Liebe natürlich Kritik am repressiven Gebaren des Staates  einschließt. Zugleich gelingt es den Autoren sehr plastisch zu zeigen (und nicht bloß zu behaupten und zu beurteilen), wie Missbilligung mitunter in antisemitische Ressentiments umkippt, die sich als Israelkritik versucht, politisch zu maskieren. 

„We love Israel“ beweist, dass sich Hörspiel ohne zu moralisieren, auf mutige experimentelle und unterhaltsame Weise auf ein schwieriges Thema einlassen kann. 

Lobende Erwähnung 

Die Jury spricht eine lobende Erwähnung im Sinne eines zweiten Preises aus für das Hörspiel "Die Maschine steht still" (von Felix Kubin, NDR).  Sie würdigt die Wiederentdeckung eines visionären Textes, der vor 100 Jahre geschrieben, im Studio musikalisch und spannungsreich inszeniert und von Susanne Sachsse facettenreich gesprochen wurde, und der in seiner soziologischen und psychologischen Vorhersage fast unheimlich nah an die heutige Wirklichkeit heranrückt.

Jury und gastgebender Sender 2018 

Viktorie Knotková, Dramaturgin Schauspiel Bremen
Regine Beyer, Radioautorin und -regisseurin
Benno Schirrmeister, Journalist, die taz

Gastgebender Sender: Radio Bremen

Hörspiel des Monats April 2018 

Karl Marx statt Chemnitz
von Thilo Reffert

  • Regie: Stefan Kanis

  • Mit: Ulrike Krumbiegel, Jörg Schüttauf, Thorsten Merten, Carina Wiese, Tilla Kratochwil, Kirsten Block, Hilmar Eichhorn u.a.

  • Redaktion: Thomas Fritz

  • Produktion: MDR

  • Erstsendung: 30.04.2018

  • Länge: 54‘57‘‘

Karl Marx statt Chemitz Hörprobe

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Jörg Schüttauf in der Rolle des Hauke Veit-Klapp
Foto © MDR/Thilo Reffert

Begründung der Jury 

Das Hörspiel des Monats April handelt von einem Namensstreit, der dazu zwingt, den Begriff des Eigenen – zum Beispiel: Heimat – neu zu denken. Es handelt von den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen auf kommunaler Sachbearbeiterebene, handelt von einem Monsterkopf, in dessen Innerem Etwas vor sich geht,  vom globalen Großkapital, das plötzlich seine historische Aufgabe wahrnehmen, also Produktivkräfte entwickeln könnte, und zwar in Sachsen, sowie von den Möglichkeiten und Zwängen der Medien: hier des Radios. Kurz: Es handelt von Karl Marx, wurde vom MDR in der Regie von Stefan Kanis  produziert, und Thilo Reffert hat‘s geschrieben. Denn Reffert gelingt es dank einer elegant-doppelbödigen Stück-in-Stück-Konstruktion mit „Karl Marx statt Chemnitz“, diese vielfältigen Themen  in einem Plot von tiefgründiger Heiterkeit und funkelnder Bosheit zusammenzufügen:

Der freie Hörfunkjournalist Hauke-Veit Klapp ringt mit der für ihn zuständigen Redakteurin Rita um die Ausstrahlung seiner zehnteiligen Mini-Feature-Serie. Die war fest vereinbart, wurde nun aber kommentarlos gecacnelt. Ein Versehen? Oder ein Eingriff der Funkhaus-Hierarchen? Um sie doch noch günstig zu stimmen, oder wenigstens ihrer Ablehnung auf den Grund zu kommen, führt Hauke nun Rita jede Folge einzeln vor. Schonungslos ätzt Ulrike Krumbiegel in der Rolle der Redakteurin übers Intro, das „so 90er“ sei,  klagt über langweilige talking heads –  „Radio kann so viel mehr transportieren als Worte“ –  und bespottet einfallslose Versuche, das Werk akustisch aufzubrezeln: „Flussrauschen, Hauke, dein Ernst?“  Zugleich kann sie sich weder der Faszination der archivarischen O-Ton-Trouvaillen entziehen, die Hauke aufgetan hat –  von Eberhard Rangwitz‘ propagandistischer Kantate „Frühling der Jugend“ bis zu Ansprachen von Otto Grotewohl und Erich Honecker – noch letztlich dem inhaltlichen Sog seines Projekts. Denn der von Jörg Schüttauf grandios lebensnah gesprochene Reporter beobachtet in seiner Serie den naiv für den Verfasser des Kapital entflammten Spaßguerillero Demba und in reflexhafter Marx-Ablehnung befangenen GegnerInnen. Dembas Plan ist es, den Ort am Zusammenfluss von Würschnitz und Zwönitz am 5. Mai 2018 für einen Tag wieder „Karl-Marx-Stadt“ zu nennen. Halt so, wie Chemnitz von 1953 bis 1990 hieß. Und dafür hat er am höchsten Bauwerk der Stadt, einem über 300 Meter hohen Schornstein, ein einschlägiges Transparent aufgehängt. Skandal! Wahnsinn? Geniale Idee, die  man nicht fallen lassen darf, „nur weil die falschen Leute auch dafür sind?“ Bringt das am Ende Touris, Investoren, Geld? Die Köpfe der Stadt, selbst die hohlsten, reden sich heiß, weil auf dem Spiel steht, was sich, kritisch, als Urform von Ideologie bestimmen lässt: Identität. „Karl Marx statt Chemnitz“ ist ein Stück, über das man Dissertationen verfassen kann – und das sich ebenso gut als prima Unterhaltung einfach weghören lässt. 

Lobende Erwähnung 

Eine lobende Erwähnung im Sinne eines zweiten Preises spricht die Jury aus für wittmann/zeitbloms multimediales Projekt „@wonderworld – The Story of Alice and Bob“ (DLF/SWR): Eine Reise mit Pop-Appeal in eine durch Algorithmen perfektionierte Soundwelt irgendwo zwischen Philip K. Dick und Ovid, in der Fragen nach früher oder später, dem Unterschied von wahr und falsch, Matrix und Realität keinen Sinn mehr ergeben. Eine hoch-artifizielle Produktion von synthetisch-cooler Sinnlichkeit.

Jury und gastgebender Sender 2018 

Viktorie Knotková, Dramaturgin Schauspiel Bremen
Regine Beyer, Radioautorin und -regisseurin
Benno Schirrmeister, Journalist, die taz

Gastgebender Sender: Radio Bremen

Blatnýs Kopf oder: Gott der Linguist lehrt uns atmen
von Christine Nagel

  • Regie: Christine Nagel

  • Mit: Lisa Hrdina, Jan Faktor, Miroslav Kovárik, Werner Rehm u. v. m.

  • Redaktion: Juliane Schmidt

  • Produktion: rbb/DLF

  • Länge: 44’07’’

  • Erstsendung: 09.03.2018

Ivan Blatný (1919 – 1990)
Fotocollage Christine Nagel